von Renate Hoffmann
Wer würde dieser Aufforderung nicht gern Folge leisten. Le Midi de la France. Südfrankreich. Der Fünf-Sinne-Genuss. Lavendelfelder; der Mistral und seine wilden Gesänge. Duftwogen aus Thymian, Minze und Rosmarin von den Hügeln. Platanen-Alleen. Van Gogh in Arles, Cezanne in Aix-en-Provence; und dort das Café „Deux Garcons“, in dem Zola und Milhaud saßen. Picassos Museum in Antibes. Denkmäler für Francois Mistral, dem Goethe der Provence. Daudets Mühle. In Avignon die Brücke: „Sur le Pont d’Avignon / Tout le monde y danse, danse […]“; und der Garten der Päpste. Florians Confiserie in Nizza mit kandierten Veilchen und Rosen. Einen Espresso in der Villa Ephrussi de Rothschild auf der Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat. Und die Meerblicke.
Doch da ist auch das andere midi. Über Jahrhunderte hinweg ein Landstrich der Zuflucht und Vertreibung, der hochgespannten Hoffnungen und gestorbenen Illusionen. Ort Gejagter, Geduldeter, Geschätzter, Verfemter.
Alexander Kluy begleitet in seinem Buch „Jüdisches Marseille und die Provence“ den steinigen, von tiefen Furchen durchzogenen, doch ebenso über Höhen führenden Weg der Juden in Südfrankreich. Die Geschichte ihrer Ansässigkeit, die bis in die Jahre der Zeitenwende zurückführt, wird aufgeschlagen.
In die französische Historie eingebunden, durchläuft sie in stetem Wechsel Perioden der Akzeptanz und der unmenschlichen Verletzung. Man erfährt von Ausweisung und Diskriminierung jüdischer Familien und Gemeinden bis hin zu Pogromen – und dies nicht nur als Faktum aus jüngster Vergangenheit. Einschränkung der Rechte; Bücherverbrennungen (derTalmud, 1242); sichtbare Abgrenzung durch Tragen von „Judenhut“ und „gelbem Fleck“. Schutzgeldzahlungen. Zuweisung eines gesonderten Wohnbezirks („Carrière des juifs“).
Ordnete König Philipp IV. die Vertreibung der Juden aus seinem Regierungsbereich an, so boten ihnen die Herrscher der Provence Schutz und Siedlungsrecht. Die Aufgenommenen revanchierten sich mit großzügiger Beteiligung am Steueraufkommen, zeigten im Jahr 1357 aktiven Einsatz bei der Verteidigung von Marseille.
Diese Stadt, so betonen alte Schriften, sei ein Mittelpunkt der Gebildeten und Gelehrten gewesen. Wesentlich geprägt durch jüdische Mitbewohner, die als Ärzte, Juristen, Schriftgelehrte dafür sorgten, dass sich die Hafenstadt im Mittelalter zum Zentrum jüdischer Kultur entwickelte. Bekannt als geschickte Kaufleute, die gute Kontakte zu den Mittelmeerländern unterhielten, oft mehrere Sprachen beherrschten, waren sie auch Mittler in diplomatischen Missionen. Im Zeitenlauf blieb es jedoch beim leidvollen Auf und Ab von Schutz und Vertreibung.
Erst unter Napoleon Bonapartes Regime erhielten die Juden ihre Gleichstellung. Formaljuristisch nicht anfechtbar, realpolitisch nur bedingt wirksam. Die Anfeindungen blieben ein Schwelbrand.
Berichtet wird auch von der rasanten Entwicklung der Finanzmärkte und dem Aufstieg jüdischer Bankhäuser. Der Name Rothschild steht für eine Institution, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast den gesamten Bedarf an Staatskrediten der europäischen Länder deckte.
Von Ruhm und Reichtum ihres Großvaters James de Rothschild, Vertreter des Bankhauses in Paris, fiel auf die Enkelin Béatrice Ephrussi-de Rothschild ein profitabler Abglanz. Sie ließ auf der Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat eine Villa im italienischen Renaissancestil erbauen und mit einer prächtigen Gartenkunst umgeben, in der wir als Spätnachnutzer genussvoll lustwandeln können.
Das 20. Jahrhundert brachte erneut mit Krieg und Verfolgung Leid über Europa. Das midi blieb nicht verschont. War es bis zu Beginn der 30er Jahre bevorzugte Gegend für Intellektuelle, Erholungsuchende und Betuchte, so änderte sich mit Ausbruch des 2. Weltkrieges die Lage drastisch. Noch sah man den Süden Frankreichs wohlwollend-kritisch, wie Kurt Tucholsky 1928 in der Weltbühne: Die „Riviera liegt da und sieht aus. Sie ist die zweidimensionalste Landschaft, die sich denken läßt: für den Küstendampferpassagier ist sie ein Traum, für den, der auf der Klippe steht […] ein Paradies – man darf nur nicht in das Paradies hineingehen. Dann ist alles aus. Die französische Riviera ist nur gemalt, und zwar auf Blech.“
Und Joseph Roth schreibt zu ähnlicher Zeit über „Ir ha-gefanim“, die Stadt der Trauben: „Avignon ist die weißeste Stadt aller Städte. Sie braucht keinen Wald. Sie ist ein steinerner Garten voll steinerner Blüten. Ihre Häuser, Kirchen und Paläste sind gewachsen, nicht gebaut. […] Wenn ich der Papst wäre, ich lebte in Avignon.“
Bert Brecht und Kurt Weill begaben sich im Mai 1928 nach Le Lavandou ins Hotel „Provence“ zur Intensivarbeit an der Adaption von John Gays Bettleroper. „[…] (es) ertönten im Zimmer hinter der Veranda die ersten Strophen des Barbara-Liedes und die charakteristische große Sexte, die der Moritat von Mackie Messer ihre unnachahmliche Suggestivität verleiht.“ (Lotte Lenya)
Der französische Süden galt bis 1942 als zone libre, verwaltet durch die „Vichy-Regierung“. Sie bot den jüdischen Bürgern – unter den gegebenen Umständen – noch einen gewissen Schutz. Die „Freie Zone“ wurde Zufluchtsort für Verfolgte des In- und Auslandes. Mit der Besetzung durch die Deutschen im November 1942 schlug die Situation um. Verhaftungen, vorrangig in Marseille und Nizza; Juden hatten den „Gelben Stern“ zu tragen. Es bestanden Internierungslager. In Aix-en-Provence das Camp des Milles, in dem auch Lion Feuchtwanger und Max Ernst inhaftiert waren.
Die Berichte nehmen nun eine bitterernste Tonart an. Feuchtwanger beschreibt im Rückblick die erniedrigende Lage in der alten verlassenen Ziegelei. Renée Wiener, Österreicherin und im Widerstand engagiert, erinnert sich: „Als wir nach Nizza kamen, gab es dort schon sehr viele Flüchtlinge und ein Jüdisches Komitée […] Schon auf der Straße waren wir als Juden immer in Gefahr. […] Man wurde ja ununterbrochen kontrolliert, zu den unmöglichsten Zeiten fragten einen die Leute nach den Papieren. […] es reichte völlig, dass jemand einen Verdacht hatte oder dass ihm deine Nase nicht gefiel.“
Der Autor gedenkt in seinen Darlegungen auch derer, die unter Lebensgefahr Leben retteten. Der US-Amerikaner Varian Fry, Journalist und Redakteur, richtete 1940 in Marseille das „comité Fry“ ein, brachte Flüchtlinge außer Landes, besorgte Pässe und Visa. Zu den vielen, denen er half, zählten Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Hannah Arendt, Alfred Döblin; und Juden und Nichtjuden verschiedener Nationalität. Frankreich ehrte ihn später mit dem Titel „Chevalier de la Légion d’Honneur“.
In der Fülle der Informationen begegnet man Egon Erwin Kisch, „Egonek“, dem rasenden Reporter, der in La Seyne-sur-Mer seinen 50. Geburtstag feierte. Anna Seghers in Marseille, wo sie in einem „tristen Hotelzimmer“ wohnte und versuchte, ein Transitvisum in die USA zu erhalten; und in Saint-Paul-de-Vence, seinem Lieblingsort – Marc Chagall. Die Schar deutscher Schriftsteller trifft man in Sanary-sur-Mer, „dem kleinen Fischernest westlich von Toulon“, deren Zusammenkünfte Ludwig Marcuse schildert.
Menschen in Schatten und Licht; Städte in Aufstieg und Fall. Ein Buch, sorgfältig recherchiert, das nachdenklich stimmt und bewegt. Ein Reisebegleiter, der neue Sichtweiten eröffnet. – Ergänzend sind im Anhang Hinweise zu Festen, Einrichtungen des jüdischen Lebens und ein Glossar zu finden.
Alexander Kluy: Das jüdische Marseille und die Provence (Reihe: Mandelbaum City Guide), Mandelbaum verlag, Wien 2013, 298 Seiten, 19,90 Euro.
Schlagwörter: Alexander Kluy, Frankreich, Juden, Marseille, Provence, Renate Hoffmann