von Judith Dellheim
Am Tag nach Bloccupy muss mensch zur deutschen EU-Politik schreiben, die in den Bauch gestandenen Beine fordern Tribut … Und so geht es hier um wirtschaftliche und politische Strukturen wie gesellschaftliche Prozesse, die frisch erfahrener Polizeirepression zugrunde liegen.
Für diese ist die „Achse Berlin – Paris“ von hoher Relevanz, was auch die linken Fraktionen im deutschen Bundestag und in der französischen Nationalversammlung wissen. Genau eine Woche nach ihrem Pariser Treffen vom 23. Mai 2013 legten Jean-Louis Beffa, der Ehrenvorsitzende von Saint-Gobain und Vorsitzender von Lazard Asien, und Gerhard Cromme, Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens, gemeinsam mit den Unternehmerverbänden MEdeF, AFEP und BDI Frau Merkel und Herrn Hollande einen Bericht zur Industriepolitik auf den Tisch. Das Bizarre daran ist der Kontext zu den EU-Dokumenten. Dafür ein Beispiel: Der Bericht erklärt, dass „die europäische Industrie weltweit an Einfluss verliert, [und] sich Europa [deshalb] hinsichtlich seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit neuen Herausforderungen stellen [müsse]. 2013 könnte der Wendepunkt für einen langanhaltenden Aufschwung der europäischen Wirtschaft werden, wenn die Stabilisierung des Euro gelingt, weitere Strukturreformen durchgeführt werden und die Wirtschafts- und Währungsunion fortgesetzt wird. … wirtschaftlicher Aufschwung [sei] ohne Wachstum undenkbar, welches seinerseits internationale Wettbewerbsfähigkeit voraussetzt.“ Dafür brauche man insbesondere zuverlässig billige Energie.
Wiederum eine gute Woche zuvor hatte der Europäische Rat verkündet: „Vor dem Hintergrund der derzeitigen Wirtschaftslage müssen wir all unsere politischen Möglichkeiten zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, der Beschäftigung und des Wachstums mobilisieren“. Und: „Die Versorgung unserer Wirtschaft mit erschwinglicher und nachhaltiger Energie ist in diesem Zusammenhang von größter Bedeutung. …“
Dass herrschende Politik sich an Konkurrenzfähigkeit in der globalisierten Wirtschaft orientiert, ist nicht neu, sondern ein Merkmal des Neoliberalismus. Neu ist jedoch, dass nunmehr darauf verzichtet wird, der Bevölkerung „zu verklickern“, dass es dabei schließlich um ihre Interessen gehe. Das ist zum einen ein Ausdruck der Entwicklung von gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen, von anhaltender Defensive der Linken. Zum anderen ist das ein Ausdruck von Veränderungen in den Beziehungen unter den Kapitalfraktionen. Das Tragische sind die Konsequenzen für die Lebensbedingungen der Menschen, vor allem der sozial und global Schwachen.
Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs teilen gemeinsam mit den Unternehmerverbänden das Interesse an der Fortführung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die den Global Playern, ihren Standorten und den Reichen nutzt – weil sie einen Puffer gegen die Instabilitäten des US-Dollar bietet, Wechselkursschwankungen unter EU-Ländern ausschließt, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben an Gewinnen in der globalen Konkurrenz ausrichtet.
Diese Feststellung ist nun keinesfalls ein „Ja!“ zum Ausstieg aus dem Euro, denn damit würde die soziale und politische Stellung der Finanzmarktakteure, der Konzerne, der Reichen und ihrer Verbündeten nicht so erschüttert, dass sie die ökonomischen Folgen des Ausstiegs/Crashs nicht mehr „nach unten“ abwälzen könnten. Zum anderen würden mit dem Ausstieg/Crash auch keine europäischen Integrationsprozesse in Gang gesetzt, die politisch gezielt Problemlösungspotenziale produzieren. Hingegen gibt es gerade in Deutschland und Frankreich zahlreiche Akteure, die aus einem Ende der gemeinsamen Währung Gewinn ziehen würden: ideologische, politische und religiöse Rechtspopulisten und Rechtsextremisten …
Die deutsche und französische Regierung hatte im Januar anlässlich des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages erklärt: „Bei der Industriepolitik ist es vor allem notwendig, alle europäischen Politiken dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums zu unterstellen.“ Insbesondere sei man sich „der ähnlichen Probleme der deutschen und der französischen Industrie beim Zugang zu Rohstoffen bewusst“ und verpflichte sich, „die deutsch-französische Abstimmung zu intensivieren, um unseren beiden Volkswirtschaften einen wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Zugang zu strategisch bedeutenden Rohstoffen zu sichern.“ So sei man „erfreut“ über die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Fast zeitgleich kamen aus dem Europäischen Parlament „Allgemeine Grundsätze der Industriepolitik der EU“, die auf den Zusammenhang zwischen der Wirtschafts- und Währungsunion, dem EU-Recht, der Lissabon-Strategie beziehungsweise ihrer Nachfolgerin „EU 2020“ und der Industriepolitik fokussierten.
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete die französische Regierung intensiv daran, den Gallois-Bericht zur Industriepolitik in nationales Recht zu überführen und gewerkschaftliche Rechte zu demontieren. Das Ziel ist zum einen ein Gewinn der Industrie an „globaler Wettbewerbsfähigkeit“ (im Sinne von Konkurrenzfähigkeit), zum anderen ein wachsender „Handlungsspielraum in Europa und in der Welt“. „Der Exportanstieg“ wird als „nationale Priorität“ bezeichnet. „Der Schlüssel“ dafür sei „Investition“, die „deshalb Priorität“ habe. Um sie zu ermöglichen, wird „ein Paket von kohärenten Maßnahmen“ vorgeschlagen, die als Grundlage für einen Pakt zwischen allen Akteuren der industriellen „Rückeroberung Frankreichs dienen“ sollen. Dafür seien jetzt „Vorleistungen“ – vorrangig von den Lohnabhängigen – zu erbringen und eine „angebotsorientierte Politik“ zu verfolgen. Dem Staat wird eine besondere Verantwortung zugeschrieben, vor allem in Bezug auf die Qualität preisgünstigen flexiblen Humankapitals, auf die Sicherung des Eigentums der industriellen Investoren und die Schaffung eines sozialen Konsenses. Immer geht es um Investitionstätigkeit und deren allseitige Förderung, um staatliches Engagement bei der europäischen, trans- und internationalen Rahmensetzungspolitik.
Die Realisierung der im Gallois-Bericht vorgeschlagenen Maßnahmen bedeutet eine Machtverschiebung zugunsten des Staates, der Konzerne, der Exporteure. Die Vorschläge basieren insbesondere auf der Analyse deutscher Industrieerfolge. Sie weisen eine deutliche militärische Dimension und eine klare Verbindung zur „Sicherheitspolitik“ auf. Schließlich sollen die Ressourcen für Profite fließen und niemand soll die Kapitalverwertung stören. Billige Energie war immer ein Standortvorteil der französischen Industriellen und soll es bleiben – Atomenergie, Fracking, zerstörerische Großprojekte gelten als zukunftsfähige Optionen.
Der Gallois-Bericht kritisiert die Europäische Kommission wegen ihrer Industriepolitik. Sieht man sich daher die entsprechende Kommissions-Mitteilung vom Oktober 2012 an, ist man vielleicht zunächst überrascht: Warum denn Kritik bei so viel Gemeinsamkeit?
Die Kritik richtet sich offenbar gegen eine ausgemachte Inkonsequenz der Institutionen bei der Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für Konzerne. Das betrifft die Gesetzgebung, die Finanzierung, die Bereitstellung des erwünschten „Humankapitals“, das internationale Engagement zugunsten der Global Player und der Reichen.
Dass nun im Bericht von Beffa, Cromme und Co. soviel Gallois-Bericht steckt, liegt nicht daran, dass die französischen Wirtschaftspolitiker noch neoliberaler und aggressiver als die deutschen sind und diese nun erfolgreich drängen nachzuziehen. Nein, in ihrem Ringen um Konkurrenzvorteile reagieren die in Frankreich Führenden auf ihre deutschen Kontrahenten und suchen mit diesen gemeinsam nach Wegen, wie sie übereinstimmende Interessen in der EU so umsetzen können, dass beide beziehungsweise sie gemeinsam ihre Rolle im Euro-Raum, in der EU, in Europa, in der Welt verteidigen und ausbauen. Ihre Interessenübereinstimmung erklärt dann weitgehend EU-offizielle Dokumente, Beschlüsse und Politik – auf Kosten der sozialen und natürlichen Lebensbedingungen der Menschen, vor allem jener „da ganz unten“.
Leider ging es am Tage nach dem Europäischen Rat vom 22. Mai bei den linken Abgeordneten aus Deutschland und Frankreich viel zu wenig darum, wie sie endlich zu gemeinsamen linken Strategien gegen die herrschende Politik, zu einer an den Lebensinteressen der sozial Schwachen und der Mehrheiten ausgerichteten Gesellschafts-, Wirtschafts-, Industrie- und Energiepolitik kommen. Aber bei Bloccupy war DIE LINKE. sehr zu loben und es waren Genossinnen und Genossen aus Frankreich dabei. Für die überfällige Diskussion liegt auch nicht so ganz wenig „Substanz“ vor.
Schlagwörter: Europäische Kommission, Gallois-Bericht, Industriepolitik, Judith Dellheim