16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

17. Juni – Reminiszenzen und Reflexionen

von Korff

Ein 17. Juni ist in der Interpretation der deutschen politischen Wissenschaft und Publizistik fast immer der des Jahres 19531, weil, wie 50 Jahre danach offiziös verkündet wurde, dieser 17. Juni als Ereignis möglicherweise bedeutender als die Französische Revolution, mindestens jedoch ihr vergleichbar sei. In der FAZ vom 22. Juni 2004 hieß es in der Rezension eines Buches, dessen Autoren als Mitarbeiter der damals Birthler-Behörde genannten Institution benannt wurden: „Ziel ist es, den Juni-Aufstand als ostdeutsche Gründungslegende der neuen Bundesrepublik zu etablieren, die – ohne verharmlosen oder relativieren zu wollen – neben Auschwitz als ‚Gründungslegende ex negativo der Bundesrepublik’ gestellt werden soll. Auch in der europäischen Erinnerungskultur wollen die Autoren den 17. Juni verankern. Dabei betrachten sie einerseits eine Bezugnahme auf die Französische Revolution von 1789 als ‚historisch durchaus legitim’. Andererseits sehen sie dessen europäische Dimension‚ vor allem durch seine Verankerung in der Freiheitsgeschichte Ostmitteleuropas gegeben. Dies bringt es mit sich, dass sie keineswegs immer verdeutlichen können, ‚wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen’ (Max Weber)“.2
Jetzt, weitere zehn Jahre danach, stellt sich dazu noch immer die Frage: Wieso wurde da Arbeitern vor 60 Jahren nachträglich offenbar nicht nur durchschlagende Kraft gegen Regierende und Nachdenkliche bescheinigt, sondern auch eine „führende Rolle“ zugeeignet? War das etwa listige Empfehlung für künftige innenpolitische Eruptionen? Aus der Niederlage der DDR quasi die Lehre ziehend, dass es eine „historische Mission der Arbeiterklasse“ nicht nur gab oder nach 1945 gegeben haben soll, sondern immer noch gibt? Lenin sah das ja schon nicht mehr so, wenn man seinen Ausführungen zum ausschließlich tradeunionistischen Denkvermögen des Proletariats als Klasse in „Was tun?“ folgt …
Das vom FAZ-Rezensenten konstatierte „Wollen“ bezeugt einen beunruhigenden Relativismus in der deutschen Historiographie: Da erfolgt Normgebung im Hinblick auf das Geschichtsverständnis einer Nation per „Order di Mufti“ – durch eine politische Behörde, demonstrativ durch hauptamtliche Mitarbeiter. Kompetenzerhöhung oder anderes?
Ehemals kommunistisch firmierte Staaten in Osteuropa suchen nach Wurzeln und arbeiten mit zum Teil weit hergeholten Begründungen ihres gesellschaftlichen Wandels zum Kapitalismus. Die DDR hingegen ist – ob nun günstig gelöst oder nicht – direkt, quasi gesellschaftlich komplett, in die alte Bundesrepublik gefallen. Dadurch wurde objektiv den Neubürgern zugleich auch eine andere, nämlich jene Ahnengalerie verordnet, zu der sich die bundesdeutschen Eliten und weit mehrheitlich auch die Gesellschaft nach der „Niederlage“ von 1945 – deren Benennung als „Befreiung“ westlich der Elbe bis heute marginal geblieben ist – entschlossen hatte: nämlich ohne störende „Aufarbeitung“ des „Dritten Reichs“ rasch in „Europa“ und der NATO aufzugehen. Das schien die Lösung, obwohl es real dann doch nur ein Aufschub war, wie das Jahr 1968 und die erst in den letzten Jahren so richtig angelaufene öffentliche Benennung der braunen Wurzeln bundesdeutscher Ämter und Behörden zeigen.
Der 17. Juni 1953 hatte per saldo weder den Großteil der westdeutschen Bevölkerung tangiert, kaum interessiert, noch den Staat BRD erschüttert. Im Übrigen aber: Was wäre wohl das internationale Ergebnis gewesen, wenn eine spontane Erhebung in der DDR kurzfristig die Perspektive einer deutschen Vereinigung eröffnet hätte? In der damals akuten Situation zwischen den Weltmächten wäre wahrscheinlich offener Krieg die Folge gewesen, nicht zuletzt auch wegen der innersowjetischen Diadochenkämpfe nach Stalins Tod und angesichts des noch nicht beendeten Korea-Krieges. Jedenfalls hätte es für eine dergestalt hereinbrechende deutsche Einheit keine Akzeptanz aller Besatzungsmächte gegeben. In der nachfolgenden bundesdeutschen, gar offiziellen Deutung des 17. Juni sind diese Risiken und möglichen Nebenwirkungen allerdings stets ausgespart worden. Unwissenheit?
Jahre später erfuhr ich, welche Gedanken und Überlegungen am und unmittelbar nach dem 17. Juni etwa Brecht umtrieben. In einem Brief an seinen Verleger Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 schrieb er: „[…] Ich habe drei Jahrzehnte lang in meinen Schriften die Sache der Arbeiter zu vertreten versucht. Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anderes als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen. […] Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen, brutalen Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen, und die doch immer da gewesen waren. Aus ‚Weg mit der Regierung!’ wurde ‚Hängt sie!’ und der Bürgersteig übernahm die Regie. […] An manchen Orten gab es Überfälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt. Und den ganzen Tag kamen über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren die ‚Kräfte’ am Werk, die Tag und Nacht an das Wohlergehen der Arbeiter und der ‚kleinen Leute’ denken, und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu einem hohen Todesstandard führt. […] Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs.“3
Mag sein, dass es einigen kritischen Kritikern an dieser Stelle in den Fingern zuckt, auf Brecht’s Kurzgedicht „Die Lösung“ zu verweisen mit dem Schlussteil: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Allerdings bliebe zu fragen: Warum hat Brecht diesen Text zu seinen Lebzeiten, nicht in die „Buckower Elegien“ aufgenommen? (Die erste – nicht-demonstrative – Veröffentlichung ist doch wohl erst 1959, also nach seinem Tod, nachgewiesen.) Eine aufhellende Antwort auf diese Frage kann vielleicht folgender, nicht eben häufig zitierter Brief geben: „Lieber Genosse Wandel, ich schicke Dir ein Gedicht, das ich nicht veröffentlichen will, sozusagen zu innerem Gebrauch. Die Wahrheit, die wir unserer Arbeiterschaft sagen sollten, ist meiner Meinung nach: daß sie in tödlicher Gefahr ist, von einem neu erstarkenden Faschismus in einen neuen Krieg geworfen zu werden: daß sie alles tun muss, die kleinbürgerlichen Schichten unter ihre Führung zu bringen. (Wir haben unseren eigenen Westen bei uns!) Kurz, wir dürfen nicht wieder den Kopf in den märkischen Sand stecken! Dein brecht, Buckow, Mitte August 53“.4
War Brecht in den Tag- und Nachtstunden der Ereignisse der Gefahr erlegen, stärker parteilich objektiv zu sein, als er es selbst immer einforderte – in der dialektischen Erkenntnis, dass Parteinahme keineswegs Verstoß gegen Objektivität sein muss? War dieser Brief ein individueller Irrtum?
Rufen wir Stefan Heym, den späteren Autor von „Fünf Tage im Juni“, auf. Er bewertete, was da geschah, unmittelbar so: „In der heroischen und oft schmerzlichen Geschichte der Arbeiterklasse gibt es Fälle, wo mehr oder weniger beträchtliche Teile dieser Klasse sich benahmen, als seien sie mit Blindheit geschlagen. Dreimal, seit ich erwachsen bin und zu denken gelernt habe, war ich Zeuge solcher Fälle.
Das erstemal war 1933; denn, machen wir uns nichts vor, es gab da­mals auch zahlreiche Arbeiter und Arbeitslose, die auf die Demagogie Hitlers hereinfielen und ihm nachliefen. Die Folgen sind bekannt. Und viele der deutschen Arbeiter, die damals den falschen Weg einschlugen, haben ihren Irrtum bitter und blutig bereut.
Das zweitemal war in Amerika, im Winter 1949/50, während des großen Streiks der Bergarbeiter.
Das drittemal war am 17. Juni 1953.“5
Um einer möglichen Fehldeutung gegenzusteuern: Hier geht es nicht darum, die politische Vita bedeutender Autoren anhand ihrer Irrungen und Wendungen ins Zwielicht zu stellen. Hier geht es um die Darstellung und Bewertung dessen, was am und um den 17. Juni in der DDR und deren Hauptstadt geschah, besonders in Hinblick auf „die Arbeiter“. Und da gab es eben die auch theoretisch bedeutsame erneute Erfahrung, dass deren Rolle im historischen Prozess durchaus ambivalent ist. Doch wurde versäumt, diese neu zu interpretieren und offen politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies wäre allerdings mit dem seitens der SED-Obrigkeit auch im Anschluss an den 17. Juni uneingeschränkt weiter verfochtenen Postulat von der „führenden Rolle der Arbeiterklasse“ nicht zu machen gewesen.
In diesen sowohl theoretischen als auch praktisch-politischen Kontext gehört nicht zuletzt Brechts Brief an Walter Ulbricht, noch am 17. Juni 1953 geschrieben: „Werter Genosse Ulbricht, die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ihren Respekt zollen. Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken. Ihr Bertolt Brecht“.6 Einen weiteren Brief richtete Brecht zeitgleich an den sowjetischen Repräsentanten in der DDR, Botschafter Semjonow, mit Dank an das sowjetische Militär für die Entschärfung der Situation und mit der Versicherung „unverbrüchlicher Freundschaft zur Sowjetunion“.7
Brecht, Heym und zahlreiche andere Emigranten waren von Sorge erfüllt, dass die antifaschistische Konzeption für Deutschland mit ihrer Basis in Gestalt der DDR als Hauptziel oder Nebenwirkung der – auch von außen geförderten gesellschaftlichen Eruption8 – gewaltsam verhindert werden könnte.

  1. Eine Ausnahme bildet unter anderem: Günter Gaus: Deutschland im Juni, Köln 1988; Gaus bezieht sich auf Juni 1987.
  2. Rezensiert wurde – Bernd Eisenfeld/Ilko-Sascha Kowalczuk/Ehrhart Neubert: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Bremen 2004.
  3. Bertolt Brecht: briefe 1913 – 1956, Band 1: Texte, Berlin und Weimar 1983, Seite 657 f.
  4. briefe, Seite 662.
  5. Stefan Heym: Gedanken zum 17. Juni, in: Im Kopf – sauber. Schriften zum Tage, Leipzig 1954, Seite 7.
  6. briefe, Seite 655 f. – Ulbricht antwortete am 8. Juli: „Werter Genosse Brecht! Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Erklärung vom 17. Juni, die ein mutiges Bekenntnis für Frieden, Einheit und Demokratie und Sozialismus ist. Ich hatte die Absicht, mit Ihnen persönlich einige Fragen zu besprechen. Ich hoffe, daß es nächste Woche möglich ist. Mit freundlichen Grüßen! W. Ulbricht“. (Bertolt Brecht, briefe 1913 – 1956, Band 2: Anmerkungen, a.a.O, Band, S. 240.) Ob es zu diesem Treffen kam oder nicht, ist nicht gesichert. – Brecht selbst geriet durch sein Schreiben an Ulbricht unter erheblichen Rechtfertigungsdruck, weil das SED-Zentralorgan Neues Deutschland wie auch die Berliner Zeitung in ihren Ausgaben vom 21. Juni 1953 nur den letzten Satz wiedergegeben und den Brief damit zur bloßen Ergebenheitsadresse umfunktioniert hatte. Brecht soll fürderhin den vollen Wortlaut des Briefes mit sich geführt haben, um sich, darauf angesprochen, rechtfertigen zu können. In der Bundesrepublik wurde die ND-Verkürzung von interessierten Kräften benutzt, um Brecht noch stärker als Apologeten der SED-Herrschaft zu denunzieren. Teilweise wurden seine Stücke von den Spielplänen westdeutscher Bühnen abgesetzt.
  7. Vgl. Bertolt Brecht: Werke, Band 30, Briefe 1950-1956, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1998, S. 178 und Anm. S. 549.
  8. Über die aktive Rolle des RIAS bei der Aufheizung der damaligen Ereignisse in der DDR etwa gibt es einen sehr lebendigen Zeitzeugenbericht in den Erinnerungen von Egon Bahr, seinerzeit in verantwortlicher Position bei dieser Rundfunkanstalt; siehe – derselbe: Ostwärts und nicht vergessen. Kooperation statt Konfrontation, VSA: Verlag, Hamburg 2012, S. 23 ff.. Das ging selbst der amerikanischen Besatzungsmacht zu weit. Der RIAS wurde, so vermerkt Bahr, auf Befehl des amerikanischen Hochkommissars zurückgepfiffen – und zwar mit dem Hinweis: „Ob denn der RIAS den Dritten Weltkrieg auslösen wolle?“; ebenda, S. 25.