16. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2013

Querbeet (XXV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Geburtstagsfutter für unsern lieben Schwan, Hebbel und Handke im Hinterhof, Herzog-Wut, alter Baltenpreußenadel wie neu in Potsdam.

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200 Jahre Richard Wagner. Die Medien überschlagen sich und arbeiten sich ab an den grässlichen Seiten des grandiosen Geburtstagskindes, sonderlich an seiner schlimmsten Idiotie, dem Antisemitismus. Darauf zielte jetzt die Düsseldorfer „Tannhäuser“-Inszenierung, indem sie sehr direkt an den Holocaust erinnerte. Auf Druck eines empörten Teils der Öffentlichkeit wurde die Produktion nach der Premiere abgesetzt; das Ensemble gibt das Stück fortan konzertant. Man mag die Inszenierung des ansonsten eher moderat wilden Regisseurs, deren Erarbeitung die Direktion immerhin von Anfang an wohlwollend begleitete, allein vom Hörensagen finden wie auch immer, Selbstzensur durch die Intendanz ist nichts weiter als blanke Feigheit. Vielleicht war man ja bloß erpicht auf den Skandal. Nun hat man ihn in allumfassender Peinlichkeit — und verspielte den konstruktiven Kunst-Diskurs. Im feierwütigen Dresden freilich herrschte Partystimmung. Das Geburtstagskonzert der Sächsischen Staatskapelle, Wagners „Wunderharfe“, unter Ober-Wagnerianer Christian Thielemann wurde aus der Semperoper ins leider bitterkalte Freie übertragen. Dazu Radeberger Pils vom Fass und anschließend Feiern ohne Ende an der Elbe auf Deutschlands schönstem Theaterplatz.
Dazu passt ein Ausflug ins Dorf Graupa. Dort kann man Lohengrin füttern. Vorsicht, der ist Feinschmecker, was man seiner Figur ansieht. Ziemlich mopsig, wie so manche seiner Namensvettern auf der Opernbühne. Lohengrins Bühne in Graupa ist der idyllische Teich vorm Jagdschlösschen. Drinnen steckt ein mit Hörschleifen vollgestopftes, ganz zauberhaftes Richard-Wagner-Museum nebst schickem Konzertsaal.
Graupa gehört zur schönen Elbestadt Pirna („Tor zur Sächsischen Schweiz“). Man erreicht es auch in einem Viertelstündchen mit dem Linienbus vom Schloss Pillnitz. Hier im Nest Graupa schwadronierte, politisierte, komponierte Wagner. Und wanderte, schließlich war er zeitlebens leidenschaftlicher Fußgänger.
Graupa war Wagners Sommerfrische. Nein, nicht im Schloss; vielmehr hatte er sich nebenan mit Erst-Ehefrau Minna im Gut des Bauern Schäfer zwei schlichte Zimmerchen gemietet. Dort ließen beide sich‘s gut gehen. Mit Blick ins Osterzgebirge und in die Sächsische Schweiz; von Mitte Mai bis Ende August 1846. Zweitfrau Cosima, die 35 Jahre später mit den Wagner-Kindern Siegfried und Eva den Gutshof inspizierte, gab staatsfraulich zu Protokoll: „Aus dieser Enge und Dürftigkeit strahlte diese Welt von Glanz und Schönheit aus.“ Damit meint sie, bei Schäfers fantasierte sich Richard die ersten Umrisse seiner Großen Romantischen Oper von der unglücklich-glücklichen, neugierigen Frau Elsa und ihrem fraglos schwierigen Verhältnis zu Ehemann Lohengrin herbei. Die berühmten beiden Räume sind heute möbliert im Stil der Wagner-Zeit, nur sehr viel bescheidener, also ländlich-sittlich. An der Wand Stichworte zur „Lohengrin“-Rezeption, freilich ohne (kritisch) aufs Gegenwärtige einzugehen, etwa Neuenfels’ Bayreuther „Lohengrin“-Mäuse. Schade, wäre unbedingt nachzuholen. Ein paar Kilometer weiter in Richtung Elbsandsteingebirge (Tipp für einen Ferientrip) liegt unweit des Dörfchens Lohmen mit lieblicher Barockkirche der Liebethaler Grund, einst eins der beliebten Wagnerschen Wanderziele. Hier protzt vor mächtigen Sandsteinwänden das tatsächlich größte Wagner-Denkmal der Welt: 12,50 Meter; R.W. leibhaftig maß 1,65. Der Entwurf – Wagner monströs als Gralsritter – stammt von Richard Guhr, dem Schöpfer des „Dresdner Rathausmannes“, der vergoldeten Herkules-Skulptur auf der Turmspitze. Übrigens, das wirklich tief Beeindruckende an der Graupaer Wagnerei ist: Richards Totenmaske von Augusto Benvenuto, Gips, abgenommen am 13. Februar 1883 zu Venedig.

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Selbstredend wagnert es auch in Magdeburg, wo der Meister – zuerst im heute noch funktionierenden Lauchstädter Sommertheater (heißer Ausflugstipp!) – eine gewisse Minna Planer so lange umschwärmte, bis sie dem in der Domstadt an der Elbe frisch installierten und sehr forschen Kapellmeister schließlich Gehör schenkte. Dabei wollte sich die auf materielle Sicherheit erpichte Singdrossel auf einen unberühmten Dirigenten eigentlich gar nicht einlassen.
Nun trägt seit einigen Tagen die Große Wandelhalle des nagelneuen schicken Magdeburger Opernhauses den Namen „Wagner-Foyer“. Es gab auch eine Produktion (die erste seit 1945!) von „Tristan und Isolde“; natürlich frei von jedweder Zeigefingerei in Gegenwärtiges. Das Optische durchweg sperrholzig (Frank Philipp Schlößmann); die Inszenierung von Stephen Lawiess durchweg gedankenarm. Und wenn sich doch ein paar Regieeinfälle bemerkbar machten, waren sie etwas albern, letztlich aber auch wieder nicht wirklich betriebsstörend. Das hauseigene Ensemble lieferte die Überraschung und triumphierte über die beiden einiges versprechenden Gaststars Roman Sadnik als Tristan und Hasmik Papian als Isolde, die allerdings noch etwas arbeiten müssen am Verhältnis zu ihren Rollen, ihrem Ausdruck, ihrer sängerischen Technik. Die Magdeburgische Philharmonie donnerte unter Generalsmusikdirektor Kimbo Ishil-Eto unbekümmert und frei von Raffinessen drauf los, pflegte einen Hang zum bäurisch handfesten, auch schmissigen Ton. Prima und originell die Wagner-Geburtstagsdreingabe: Das „Holländer-Projekt“ für jedermann Kind zum Mitspielen und Mitsingen. Sehr schööön und sehr im Sinne des Magdeburger Meisters: „Kinder, schafft Neues!“

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Der berühmte Regisseur Werner Herzog steht für Filme mit Klaus Kinski, unter anderem „Fitzcarraldo“; Oper in Bayreuth, in der Scala; im vorigen Jahr führte er bei einem Konzert der Rockband The Killers in New York Regie, es wurde live im Internet übertragen. Werner Herzog ist in den USA heißgeliebt, hierzulande jedoch am Rande des Vergessens. Dennoch wurde er vor kurzem in Berlin geehrt mit dem Deutschen Filmpreis „Lola“ für sein bedeutendes Lebenswerk. Neulich gab er dem Autor Moritz von Uslar ein Interview: Er werde in Deutschland als unliebsamer Außenseiter behandelt; schon allein deshalb, weil er sich nicht dem so genannten Neuen Deutschen Film zugehörig fühle, was ihm in linksfundamentalistischen Kreisen noch immer als künstlerisches Manko, ja als politische Fehlleistung angekreidet werde. Herzog: „Ende der 1960er Jahre war das Postulat, die Weltrevolution durch Film zu bewirken. Ich habe gesagt: Ihr seid Kretins! Sowohl eure Analyse, dass Deutschland ein faschistoider Unterdrückungsstaat sei, ist falsch. Wie auch das Heilmittel, Deutschland in kommunistische Kommunen aufzulösen.“ – Interessant. Und ein Schlaglicht auf den geistigen Zustand von Leuten, die sich als Avantgarde verstanden. Noch heute wabert dieses Denken durch die Köpfe derer, die sich für autonom und linksradikal weltverbesserisch halten.

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Zwei tolle Nummern auf Nebenspielstätten im Hinterhof des Berliner Ensembles, die dort zu Hauptsachen werden: Peter Handke „Die schönen Tage von Aranjuez“ auf der Probebühne und Friedrich Hebbel „Maria Magdalena“ im Pavillon.
Luc Bondy inszenierte die Uraufführung von Handkes Sommerdialog zu den Wiener Festwochen 2012. Er wuchtete dieses ziemlich larmoyante und verstiegene Über-Lust-und-Liebe-Geplauder zwischen einem Mann und einer Frau (ohne Namen und Hintergrund) mit großem szenischem Tamtam ins Akademietheater, der Dependance des Burgtheaters. Und begrub es unter Gewese und Gewusel. Selbst das Duett der furiosen Nervenschauspieler Dörte Lyssewski & Jens Harzer blieb da bloß gelähmtes Gegurgel.
Umso erstaunlicher jetzt in Berlin gleichfalls zwei Nervenschauspieler: Sylvie Rohrer & Rüdiger Vogler, die freilich nicht sonderlich auf Nerven machen, sondern auf Lakonie und zartbittere Ernüchterung über die Vergänglichkeit allen Tuns – Handkes Thema. Dazu angehalten werden sie von dem hier ganz großartigen Regisseur (und suggestiv minimalistischen Bühnenbildner) Philip Tiedemann. Eigentlich die „echte“ Uraufführung; Bondys Regie in Wien war das missglückte, missverstandene Vorspiel. Erst jetzt unter Tiedemann kam das Weh des flüchtigen (Liebes-)Lebens wirklich zur erhaben-komischen, zur trocknen (und nicht etwa feuchten) Traurigkeit. Also kitschfreien Schönheit. Rohrer und Vogler lassen erfahrungsgesättigt, mithin ziemlich abgeklärt (aber nicht abgebrüht) ganz einfach – lässig hingelümmelt an einem Gartentisch auf Gartenstühlen – den Text kommen. Und siehe da, er vermag, wie schön und einfach, sehr zu berühren. Hebbels bürgerliches Trauerspiel vom gefallenen Mädchen mit Selbstmord, ein psychologisch genau gearbeitetes Sozialdrama, spielt im BE-Pavillon quasi in der kleinbürgerlichen Wohnstubenhölle. Fast auf Tuchfühlung mit dem Publikum, mit minimal szenischem Aufwand und maximal spielerischem Einsatz unter der hochkonzentrierten, haargenauen, ernsten, viel versprechenden Regie von Nicole Felden, Claus Peymanns prima Assistentin. Die wie Kollege Tiedemann bei Handke in diesem schmerzschreienden Hebbelschen Horrortrip ganz aufs Sprachliche setzt, auf den Text. Und aufs beträchtliche Vermögen des Ensembles, aus dem der – bei aller historischen Gebundenheit – frappierend ins Heute ragende Larissa Fuchs in der Titelrolle sonderlich besticht. Zwei große, dabei kurze Abende – durch ihre Intensität lang nachwirkend.

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„Mütterliebe als Polizei für das Glück der anderen“. „Miteinander reden kann jeder; miteinander sein ist die Kunst.“ Sätze aus dem Roman „Wellen“ von Eduard von Keyserling, einem Baltenpreußen aus der Kaiserzeit. Als der Roman, eine spätsommerliche Ostseegeschichtegeschichte von Ehe, Familie, Verlobung, Liebe, Ehebruch aus dem Jahr 1911 jetzt wieder aufgelegt wurde, feierte ihn die Literaturkritik. Ein frappierend moderner Text! Es geht um das Recht eines jeden auf, wie wir heute sagen, Selbstverwirklichung. Und um dessen Grenzen – droht doch bei völliger Entgrenzung die Selbstzerstörung wie auch Zerstörung im Lebensumfeld. Es dreht sich also ums Finden der rechten Balance, was so schwierig ist wie für ein kleines Boot, das auf der Welle tanzt.
Barbara Bürk hat den klugen, auch im sprachlichen meisterhaften Roman fürs Theater in Potsdam adaptiert und mit dramaturgisch fein eingestreuter Musik leichthin quasi wie ein Aquarell auf die Uraufführungs-Bühne getuscht. In einer frappierenden Fülle szenischer Einfälle flirrt und wirbelt das verwirrende bürgerliche Sommerfrische-Ostseedasein voller Sehnsüchte und Begehren und voller herber Enttäuschungen vorüber. Das Glück wie Schaum im Wind. Der Abend hat Poesie, aber auch so manches bis ins kabarettistisch Deftige. Dazu viel Komisches, Gewitztes und allerhand Lebensphilosophisches; süß betörend, aber auch bitter melancholisch, alles fein vermischt.
„Das sind ja immer die heitersten Gesellschaften, die aus lauter Leuten bestehen, welche die Einsamkeit suchen.“ So geht Keyserling – und wir gehen mit; bis zum nächsten Querbeet, zum übernächsten, zum überübernächsten…