von Edgar Benkwitz
Etwas eigenartig würde es hierzulande schon sein, einen Nachbarn zu haben, der Stalin oder Lenin heißt. Noch eigenartiger, wenn gar ein Minister in der Regierung eines Bundeslandes einen dieser Namen tragen würde. Doch in Chennai (dem früheren Madras), der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, gibt es mit Muthuvel Karunanidhi Stalin einen Namensvetter des ehemaligen sowjetischen Diktators. Als Landespolitiker ist er eine bekannte Persönlichkeit und wird nur M. K. Stalin genannt. Kürzlich verursachte er sogar einiges Aufsehen in Neu Delhi, da er versuchte, seine regionalen politischen Interessen bei der Gestaltung der nationalen Politik des Landes durchzudrücken.
Der tamilische Stalin wurde am 1. März 1953 nur wenige Tage vor dem Tod des sowjetischen Diktators (5. März 1953) in Madras geboren. Er ist der Sohn des bekannten indischen Politikers M. Karunanidhi, der viermal Ministerpräsident in Tamil Nadu war und Vorsitzender der Tamilenpartei Dravidischer Fortschrittsbund (DMK) ist. Der Vater wählte den Namen Stalin bewusst, denn der Junge sollte einmal als „der Stählerne“ die Laufbahn eines Politikers einschlagen. Zu jener Zeit waren die Verbrechen J. W. Stalins – wenn überhaupt – nur bruchstückweise bekannt. Der „Führer des Weltproletariats“ und „Anwalt aller kolonial unterdrückten und befreiten Völker“ war in Indien nicht nur bei den Kommunisten, sondern auch im bürgerlichen Lager populär. Sogar Neugeborene erhielten die Namen sowjetischer Führer. Als später diese Begeisterung nachließ, bekam das auch der junge Stalin zu spüren, dem die Aufnahme in eine Eliteschule verweigert werden sollte. Doch der einflussreiche Vater setzte sich durch. Er würde eher die Schule wechseln als den Namen seines Kindes ändern, so die offizielle Website.
Protegiert durch seinen Vater, versuchte der junge Mann, die anvisierte politische Laufbahn zu meistern. Basis war die DMK, die sein Vater 1949 mit gegründet hatte. Durch sie wurde der Sohn viermal in das Landesparlament gewählt, ihr verdankt er eine fünfjährige Amtszeit als Minister, davon sogar einige Jahre als Stellvertreter des Ministerpräsidenten – der sein Vater war. Fünf Jahre war er Bürgermeister der Landeshauptstadt Chennai.
Doch das Glück war nicht immer auf der Seite Stalins. Das Auftreten gegen Indira Gandhis Notstandsgesetzgebung führte 1976/77 zu Inhaftierung und Misshandlung. Es heißt, dass er nur mit Mühe dem Tod entging, ein Mitgefangener kam bei seiner Rettung ums Leben. Wiederum in Haft genommen wurde er 2001 wegen angeblicher Korruption. Ein Racheakt des politischen Gegners, so die parteioffizielle Darstellung.
Dieser politische Gegner ist die andere große Tamilenpartei im Unionsstaat, die All India Anna DMK (AIADMK), 1972 von der DMK abgespalten und vom beliebten Filmschauspieler M. Ramachandram geführt. Seit dessen Tod steht bis heute seine ehemalige Geliebte, die Schauspielerin J. Jayalalitha, an der Spitze dieser Partei.
Das politische Geschehen im 72 Millionen Einwohner zählenden Bundesstaat Tamil Nadu wird somit seit über 40 Jahren durch zwei rivalisierende Tamilparteien geprägt, die sich bei der Machtausübung mehr oder weniger regelmäßig abwechseln. Zudem tragen sie fast den gleichen Namen und unterscheiden sich nicht wesentlich in ihrer Programmatik.
Tamil Nadu heißt „Land der Tamilen“. Von den weltweit 79 Millionen Tamilen leben hier allein über 60 Millionen und im angrenzenden Sri Lanka weitere drei Millionen. Beide Parteien haben die Erhaltung der tamilischen Identität und die Pflege der tamilischen Kultur zu ihrem Hauptanliegen gemacht. Jede will der bessere Interessenvertreter sein und versucht, den anderen zu übertrumpfen. Ausgiebig wird dabei die Filmindustrie genutzt. Häufiger als sonst irgendwo gehen beliebte Schauspieler in die Politik, angesehene Politiker sind gleichzeitig Filmschauspieler. In Anlehnung an „Bollywood“ entstehen die beliebten Tamilfilme in „Kollywood“(nach dem Standort in Kodambakkam). Die großen Schauspieler werden von den Massen geradezu vergöttert.
Wie ihr politischer Gegner ist auch die Familie Karunanidhi, die die DMK beherrscht, mit Vater und Kindern höchstpersönlich bei der Produktion von Kassenschlagern erfolgreich. Selbst Sohn Stalin hat sich als Schauspieler schon einen Namen gemacht.
Dessen besonderes Talent ist aber das politische Organisieren, das ihm schon vor Jahren in seiner Partei den Beinamen „Thalapaty“, der Leutnant, eintrug. Er hat maßgeblichen Anteil, dass seine Partei bei den Wahlen zum indischen Unterhaus 2009 18 Abgeordnete nach Neu Delhi schicken konnte. Die DMK wurde damit zum wichtigen Koalitionspartner der Kongresspartei und bildete mit einigen anderen Regionalparteien die neue indische Regierung. Doch kürzlich kündigte sie die Koalition auf und stürzte die Regierung in Neu Delhi in eine parlamentarische Minderheit – die aber durch die indirekte Unterstützung anderer regionaler Parteien zunächst wirkungslos bleibt. Anlass dafür war eine Resolution der UN-Menschenrechtsorganisation, die die Regierung in Sri Lanka auffordert, Menschenrechtsverletzungen bei der Niederschlagung des Tamilenaufstandes in ihrem Land zu untersuchen. Nach Auffassung der DMK sollte diese Resolution aber weitaus schärfer formuliert werden. Das lehnte die Regierung in Delhi ab.
Nach Presseberichten war M. K. Stalin die treibende Kraft beim Regierungsauszug, er soll seine harte Linie sogar gegen seinen Vater durchgesetzt haben. Ob sich das auszahlt, wird die Zukunft zeigen. Verlierer ist erst einmal kurioserweise der ältere Bruder von Stalin, der als Minister die Regierung in Neu Delhi verlassen musste. Dieser Bruder fühlt sich nicht das erste Mal zurückgesetzt, denn Anfang dieses Jahres bestimmte Vater Karunanidhi gegen den Widerstand des Älteren seinen Lieblingssohn M. K. Stalin zu seinem künftigen Nachfolger für den Vorsitz der DMK.
Mit seinen politischen Aktionen wollte „der Stählerne“ nun offensichtlich zeigen, was in ihm steckt. Doch das Spiel mit der srilankesischen Tamilenfrage ist nicht ohne Sprengstoff. Es führt immer wieder zu Spannungen im Verhältnis zum Nachbarstaat und zu Problemen mit der Regierung in Neu Delhi. Auch das Verlassen der dortigen Regierungskoalition stellt den zukünftigen Führer der DMK vor neue Probleme. Denn plötzlich steht er auf einer Ebene mit seiner politischen Konkurrenz, der AIADMK, die seit jeher vehement gegen die Regierung in Delhi arbeitet. Wie das alles den Anhängern erklären? Es scheint, dass auf den „Thalapaty“ viel Arbeit zukommt. Aber vielleicht wendet sich der immer freundliche Politiker mit aller Kraft der Verwirklichung seinen „Visionen für Tamil Nadu“ zu, mit denen er sein Land zu einem Modell für ganz Indien gestalten will. Die vollständige Abschaffung der hier besonders verbreiteten Kinderarbeit, gleiche Rechte für Frauen auf allen Gebieten, eine hundertprozentige Alphabetisierung der Bevölkerung und einiges mehr stehen in seinem Programm. Warten wir ab, welchen politischen Gestaltungsspielraum sich M. K. Stalin schaffen kann. Auf jeden Fall wird er in der nationalen Politik Indiens als zukünftiger Führer einer großen regionalen Partei Beachtung finden müssen.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, M. K. Stalin, Stalin, Tamilen