16. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2013

Querbeet (XXIV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal rheinisches Gold am Ufer vom Genfer See, altägyptisches Edutainment, Berlinisches Entertainment und Thüringer Blechkuchen.

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Die Direktion der Abteilungen commercial et billetterie des Grand Theatre zu Genf war höchst besorgt um Monsieur W. In einem freundlichen Brief auf holzfreiem Papier sowie durch mehrere ebenso freundliche elektronische Briefe wurde ich darauf hingewiesen, dass die Vorstellung der Oper „Das Rheingold“ „2h40“ dauere, keine Pause habe und deshalb le service de restauration bereits eine Stunde vor Beginn zu Diensten stehe. Das sollte man wissen, um die knapp drei Stunden ohne Schampus und Häppchen durchzustehen.
Architektonisch ist das Genfer Belle-Epoque-Opernhaus ein Zwitter: Ende der 1950er Jahre wurden Zuschauersaal und Bühnenhaus abgerissen und total modernisiert wieder aufgebaut; der Saal ist nun Schnörkel und Logen los und ein Amphitheater mit gläsernem Sternenhimmel und prima Sicht von überall — aber leider ohne Beinfreiheit (Randplätze buchen!). Die Foyers prunken weiterhin im alten Kristall, Gold, Stuck.
Also „Rheingold“ im teuren Genf; passt hierher. Auch wenn inzwischen – sonderlich in deutschen Landen – selbst kleinste Hütten das größte existierende Opernprojekt, „Der Ring des Nibelungen“, stemmen. Richard Wagner wäre, fielen noch Tantiemen an, begeistert; ansonsten wohl eher irritiert. Immerhin hatte er extra für seinen gigantischen Vierteiler in Bayreuth ein spezielles Theater bauen lassen; und jetzt macht’s jede Klitsche. Freilich konnte er nicht ahnen, was heutzutage technisch alles geht, und Video hat inzwischen jeder Schuppen. Trotzdem befremdet die „Ring“-Flut. Zumindest wird so weniger wichtig, wie auf dem Grünen Hügel die Ringerei (heuer mit Frank Castorf) ausgeht. Kann man doch aller Arten „Ring“-Betrachtung längst überall haben. So gesehen gibt’s in Genf nichts Neues.
Dafür solide Schmiedearbeit; was ja hinsichtlich der Verrenkungen andernorts bei der Arbeit am Mythos schon viel ist. In Genf nun tun zwei ruhmreiche Altmeister des deutschen Theaterbetriebs ihren Dienst am Werk: Regisseur Dieter Dorn (77) und Ausstatter Jürgen Rose (75). Beide prägten über vier Jahrzehnte den Münchner Theaterbetrieb. Wer es genau wissen will, sollte in Dorns soeben (bei C.H. Beck) erschienener Autobiografie „Spielt weiter!“ blättern. „Das Rheingold“ der beiden Wahl-Bayern im Toblerone-Land, das sind poppige Reminiszenzen, sind ins Gegenwärtige weisende Videoprojektionen, ins kindliche treibender Märchenzauber. Dazu Sarkasmus und ironischer Charme; man wankt zwischen Komödie und Farce überm tragödientiefen Abgrund. Dort tummeln sich die in makabre Verhältnisse verstrickten Götter, Riesen, Zwerge, was Regisseur und Ausstatter erhellend vorführen. Eine nicht unbedingt originelle, aber bildstarke, klar verständliche, dabei amüsante Vorführung des Spektakels um Goldklau, Verfluchung des Mammons und der Liebe Glück. Man kapiert, wie unverschämt flink das Böse in die Welt kommt. Und darf gespannt sein, wie die Regie damit weiter spielt bis zum Weltuntergang „Götterdämmerung“.

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Anfang der 1930er Jahre im fernen China: Der Nationalist Tschiang Kaischek rüstet seine Kuomintang-Truppen zum (Bürger)Krieg, und höchste deutsche Militärs mischten eifrig drein mit Waffenlieferungen. 1931 in Chemnitz: Der Gymnasiast Helmut Flieg schreibt „unter der Schulbank“ das Gedicht „Exportgeschäft“. „Die Herren exportieren deutsches Wesen / zu den Chinesen! Zu den Chinesen! / Gasinstrukteure, Flammengranaten / auf arme, kleine, gelbe Soldaten – / denn daran wird die Welt genesen… / Hoffentlich / lohnt es sich!“
„Kein sehr gutes Gedicht, aber sehr gut gemeint“, urteilt der Autor später. „Und es hat mein Leben verändert.“ Denn während der dritten Stunde, während des protestantischen Religionsunterrichts, von dem Helmut dispensiert war, lief er mit seiner Lyrik zur Redaktion der „Chemnitzer Volksstimme“ – und flog von der Schule. Hätte er nicht gedichtet und wäre in der Freistunde nicht zur Zeitung gelaufen und also nicht relegiert worden, dann wäre er wohl auch nicht gezwungen gewesen, „Deutschland bereits im März 1933 zu verlassen; vielmehr wäre er im Lande geblieben wie andere seinesgleichen und hätte mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölkchen über Auschwitz geendet“. Schreibt Helmut Flieg im Rückblick auf sein abenteuerliches Leben, das ihn, kurz vorm zwanzigsten Geburtstag, via Prag ins amerikanische Exil trieb und von dort mit der US-Army zurück führte nach Europa und dann in die DDR. Doch da nennt er sich längst schon Stefan Heym, ist berühmter Schriftsteller, der schließlich 1994 in den Bundestag gewählt wurde – und, scharfe Pointe dieses Lebenslaufs, ins Amt des Alterspräsidenten. Jetzt, zum hundertsten Geburtstag des Chemnitzer Weltbürgers (und Weltbühne-Autors), erschien bei Bertelsmann ein 100-Seiten-Büchlein mit den frühen Gedichten unter dem poetisch-politisch trefflichen Titel „Ich aber ging über die Grenze“. – Es waren viele Grenzen, über die er ging; mit Lust und unter Schmerzen.

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„Sie kennen mich nicht, aber Sie haben schon viel von mir gehört“, sagte Werner Richard Heymann. Tatsächlich; man kennt ihn nicht. Aber „Irgendwo auf der Welt…“ oder „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“ oder „Das gibt’s nur einmal…“ oder „Ein Freund, ein guter Freund“ – das kennen alle. Heymann war einer der berühmtesten (Film-)Komponisten der Zwischenkriegszeit, seine hinreißend eingängigen, im Subtext hoch philosophischen Lieder sind Evergreens, Superhits, Volkslieder. 1933 kündigte die Ufa ihrem jüdischen Generalmusikdirektor, der 1896 in Königsberg geborenen, später christlich getauft wurde und der im Ersten Weltkrieg für Deutschland in den Krieg zog. WRH verließ sofort nach dem Rausschmiss am 9. April 1933 Berlin, ging via Paris nach Hollywood (vier Oscar-Nominierungen), kehrte 1951 wieder nach Deutschland zurück, heiratete zum zweiten Mal und wurde Vater. 1961 starb er in München. Seine Lieder sind Kostbarkeiten; ganz einfach und doch tiefsinnig – selten, dass es derart glückt. Nun sang die große Schauspielerin Dagmar Manzel just an dem Tag, als vor achtzig Jahren Heymann aus Deutschland gestoßen wurde, in der Komischen Oper Heymann-Hits. Eine Sternstunde. Heymanns Tochter Elisabeth Charlotte war dabei; sie sprach gerührt von einem Fest der Versöhnung. Der rappelvolle Saal war beglückt.

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Nachmittag, 26. November anno 1922. Der Archäologe Howard Carter lässt in einem frei gelegten Gelände am Nil – heute weltberühmt als Tal der königlichen Grabstätten – in einen just entdeckten steinernen Bunker ein Guckloch meißeln: Und Goldglanz funkelt ihm entgegen! Alsbald war klar: Es ist die Gruft des Knabenkönigs Tutanchamun, beigesetzt vor fast dreieinhalb Jahrtausenden in einem raffinierten System von Särgen und Grabkammern, gefüllt mit kunstvollen Gerätschaften für die Reise ins Jenseits. 5.389 Objekte barg das Howard-Team; heute allesamt im Kairoer Museum; sie dürfen Ägypten verständlicherweise nicht verlassen. Doch deren perfekt hergestellte Kopien sind unterwegs und werden gerade grandios präsentiert in einer sensationellen Ausstellung in der Arena-Halle Berlin-Treptow – „Edutainment“ als neuer Trend bei Altertumsausstellungen. Zum Staunen und Lernen; Volkshochschule und Große Oper in einem. Am allerentzückendsten ein besonders spitzohriger Anubis, einer der vielen stoisch stummen, treu-wundertierisch-göttlichen Hüter dieses so poetischen, uns Nachgeborenen trotz äonenweiter Ferne überrumpelnd zu Herzen gehenden Totenreichs.
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Thüringen anno 1840: In dem lauschigen Dorf Kranichfeld wird ein gewisser Rudolf Baumbach geboren. Der Knabe ging in Meiningen zur Schule, studierte in Leipzig und Würzburg Botanik, wurde Dr. phil., trieb sich als Bohemien und Hauslehrer in halb Europa herum, war aktiv im Alpenverein und bekam schließlich vom Meininger „Theaterherzog“ Georg II. den Titel „Hofrat“. Doch das reicht nicht für Ruhm, der bis ins Heute ragt. Dafür muss man, beispielsweise, Dichter sein. Das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“ kennen alle, doch keiner weiß: Es stammt von Rudolf Baumbach; einem entfernten Verwandten im Geiste von Heymann.
Jedermann in Landpartie-Stimmung brummt jetzt noch „Aber der Wagen, der rollt …“ Dabei fällt kaum auf, dass der rollende Wagen als Sinnbild gilt fürs unaufhaltsame Vergehen. Überhaupt: Baumbachs zauberhafte Volksdichtung ist durchdrungen von der Melancholie des Sterbens, das immer droht. Man bekommt ein Bild davon beim Schmökern im Kranichfelder Geburtshaus des Dichters, das nicht zuletzt durch Unterstützung vom singenden Alt-Bundespräsidenten Scheel zum „Baumbachhaus“ aufwändig hergerichtet wurde. Ein feines Dichter-und Heimatmuseum; ein Kleinod, gepflegt vom Förderverein. Und in der Kaffeestube kann man für ein paar Groschen Thüringer Blechkuchen futtern. Und Baumbach-Reime summen; manche gehen ganz einfach: „Es steigen die Glöckchen / aus schmelzendem Eis / und schütteln die Röckchen, / halb grün und halb weiß. Es knarren die Eichen, / befreit rauscht der Bach, / die Kälte will weichen, / der Frühling wird wach!“ Bis zum nächsten Querbeet.