von Franz Schandl, Wien
Wenn ich durch den Wald laufe, laufe ich durch mein Leben. Es ist tatsächlich ein Erleben, bei dem ich die Geschwindigkeit ebenso bestimme wie die Entfernung. Es geht nicht nur um den Streifzug durch die Gegend, es ist ein Streifzug durch mich. Ganz lebendig wird mir und ich spüre mich als Teil der Welt. Leibhaftig teilhaftig. Und das scheint mir zu bekommen, denn als Theoretiker im geschätzten Elfenbeinturm verstehe ich mich auch gerne als Gegenteil. Aber das ist bloß eine Seite, ob meine dunkle oder helle sei dahingestellt.
Beim Gehen oder Spazieren ist es der Charme der Nähe, der einen motiviert. Beim Joggen ist es der Appetit auf eine wenn auch nicht übermäßige Distanz. Nähe und Ferne reichen sich im Laufen die Hand oder, besser eigentlich, sie geben sich die Beine. Denn die sind als die flinken Transporteure die aktivsten Körperteile. So ist das Joggen eine Lust am Entfernen, aber anders als etwa beim Reisen an einer nur mäßigen Weite. Eine Strecke, die als Geschenk wahr- und angenommen wird.
Wichtig ist, dass meine Anstrengung meine wird. Sie erscheint mir nicht aufgezwungen, sondern – so abgeschmackt das Wort im bürgerlichen Zeitalter auch klingt – freiwillig. Wenn ich will, drossle ich das Tempo und beginne zu schlendern, bleibe stehen oder setze mich ins Gras. Und wenn mir andersrum danach ist, spurte ich los oder springe über Gräben oder hüpfe blöd herum. Und wenn ich niederfalle, was selten ist, falle ich weich. Ich rieche und höre. Und meine Augen blicken, vor allem der linke Argus, der mit den Null Dioptrien. Er späht nach Pilzen und Beeren. Rotkappen. Parasol. Eierschwammerl. Heidel. Him. Brom.
Ich verlaufe mich auch ganz gern. Vor allem in den Wäldern verliert man Richtung und Ziel und findet sich plötzlich an Punkten wieder, die man weder angestrebt hat noch erwartet hätte. Es ist eine sich selbst setzende Magie. So wird der Wald zum Märchenwald, zu einem von mir erschaffenen Labyrinth der Bäume und Wege, der Sträucher und Hecken. Manche Ecken kenne ich inzwischen so gut, dass ich mich gleich unheimlich heimlich fühle, gerate ich in ihre Nähe. Sie warten zwar nicht auf mich, aber wenn ich es mir einbilde, wird es wohl so sein. Ich erwarte es jedenfalls kaum. Im Laufen habe ich Gegenden kennen gelernt, die ich sonst (auch nicht durch das Wandern und schon gar nicht durch das Fahren) nie kennen gelernt hätte. Und was mir da nicht alles einfällt, aber teilweise auch wieder ausfällt, weil ich es mir nicht merke und nicht immer Papier und Stift eingesteckt sind.
Es gibt Räume, die laufe ich leichter als andere. Das liegt an einer mentalen Strömung, deren Entstehung schwer zu beschreiben ist. Es ist eine situative Schöpfung meiner selbst. Erfahrungen weiten sich aus und werden gleichzeitig inniger. Selten bin ich so konzentriert wie beim Laufen, aber auch selten bin ich so zerstreut. Alles wird dichter und loser, und manchmal kann ich es nicht mehr scheiden. Laufen ist eine Bewegung, deren Zweck in ihr selbst zu sich kommt und außerdem wirkt. Nachher geht’s mir jedenfalls besser.
Es macht einen Unterschied, ob man am Laufen gehalten wird oder ob man selbst läuft. Die bürgerliche Gesellschaft hat wenig Leben, aber viel Ablauf zu bieten. Das Kapital ist Gebieter der Existenz, nicht Spender des Daseins. Im Kapitalismus wird viel Leben versäumt. Der Großteil unserer Existenz ist versäumtes Leben. Dieser Gedanke nun, der mich des Öfteren deprimiert, und den ich bloß aushalte, weil ich ihn konsequent verdränge, befällt mich beim Laufen nie. Ähnliches gelingt nur noch beim Koitieren und beim Dinieren. Dort ist sogar gelegentlich die Güte höher, aber im Schnitt ist sie, insbesondere beim Essen, niedriger. Das Laufen fluktuiert weniger und es ist lockerer, weil es auch oder vielleicht sogar insbesondere solo gestaltbar ist. Joggen tue ich am liebsten allein. Man muss sich auf niemanden einlassen, kann sich selbst loslassen. Ich gleite in andere Sphären. Der Himmel streichelt mich dann.
Laufen ist kein Rennen und schon gar kein Wettrennen. Es ist eine umfassende Transposition. Ich laufe mit mir davon und finde mich, ohne mich zu suchen. Je länger ich laufe, desto läufiger werde ich. Es hat was von einer orgiastischen Selbstausschüttung, etwas, das man sich gut tun kann, ohne jemanden zu behelligen. Die Erotik des Laufes ist eine meiner Lebensspenderinnen. Wenn ich einmal einen Tag oder gar mehrere keine Zeit habe, geht mir etwas ab. Und je weniger mir abgeht, desto besser bin ich zu leiden und desto leichter bin ich auszuhalten. So laufe ich häufig. Immer wieder und immer noch. Keine Ahnung, wann ich auslaufe…
Schlagwörter: Franz Schandl, Laufen, Leben, Transposition