16. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2013

Walsers Momente durch Meßmer

von Christoph Sebastian Widdau

Wenn mir eine Gesprächspartnerin in einer Babelsberger Bahnhofskneipe die naheliegende Frage stellt, welche drei Bücher ich auf eine einsame Insel (auf der offenbar ich einsam wäre, nicht die Insel) oder in ein spärlich beleuchtetes Kellerloch mitnehmen würde, dann nenne ich im endenden Winter des Jahres 2013 solche Titel, die nicht zur Menschensehnsucht verführen: Dostojewskis Преступление и наказание in möglichst präziser deutscher Übersetzung, Kafkas Der Prozess und Martin Walsers Meßmer – Meßmers Gedanken, Meßmers Reisen und Meßmers Momente. Dass jene Serie rein numerisch drei Bücher zählt und im Grunde ein einziges Buch ist, dies darf mit nicht allzu großer Kühnheit behauptet werden. So viel Platz sollte, bei Anerkennung der 2+3=3-Regel, zwischen dem anderen Gepäck noch sein.
Anfang März dieses Jahres erschien die bislang letzte Fortsetzung dieser Gedankenaufzeichnungen unter dem Titel Meßmers Momente bei Rowohlt – Mitte der 1980er Jahre hatte Suhrkamp Meßmers Gedanken, Anfang der 2000er Jahre Meßmers Reisen verlegt. Auf der Webseite des Verlages aus Reinbek konnte man bereits vor der Veröffentlichung einen Blick in den neuen Band werfen und erkannte sogleich, vorausschauend und rückblickend, den kontinuierlichen Zusammenhang seit dem ersten Erscheinen dieser literarischen Figur.
Wir haben es bei den Meßmer-Büchern nicht mit Romanen oder einem dickleibigen Roman zu tun, nicht mit einer Erzählung und nicht mit Essays. Auch nicht mit einer Sammlung von Aphorismen, schon gar nicht Sentenzen: Dafür sind die Gedankenmuster, die kurzen Sprachspiele und blitzartigen Selbsteinlassungen, die zwischen Gedicht, Geschichtensplitter oder knapper Schilderung changieren und zwischen den Singularformen der Person springen, schlicht zu radikal-subjektiv – und entfalten gerade dadurch eine intersubjektive Wirkung, die von keiner direkten Ansprache oder gar Belehrung erreicht wird. Eine Probe davon aus Meßmers Gedanken: „Ich möchte sein wie ein Wunsch. Auf der Schwelle möchte ich stehen. Ein Tag sein vor seinem Anbruch. Noch nicht gewesen sein möchte ich.“ Oder, auch aus dem ersten Band der Bis-dato-Trilogie: „Es ist viel zu wenig Platz im Bewußtsein. Man ist festgelegt auf die Stelle, auf die die Schläge fallen.“
Mancher Leser mag dies und anderes pessimistisch, zerstörerisch und dunkel nennen – eine andere Leserin schlichtweg realistisch und psychologisch präzise, auf den Augenblick des Gedankenfassens und Gedankenformens fixiert. Und das ist nicht selten komisch. Nicht stets zum Lachen, aber komisch. Beispielsweise, wenn es in Meßmers Reisen über Meßmers Utopie heißt: „Er stünde zwischen allen Wünschen und äße achtlos Zeug aus Silberpapier. So gesund wäre er, und nutzlos.“ Nutzlos zu sein, klein zu sein, nicht mehr mitspielen zu müssen, das Motiv der Flucht zu und in sich selbst, der Versuch, sich selbst zu verkleinern, das Streben nach Immunisierung – dies ist ein durchgängiges Element von Meßmers Kosmos: „Sich zusammenfalten, verkleinern, bis du ein Knäuel bist und hart.“ (Meßmers Momente) Aus dem lärmenden Rummel von Gesellschaftsdiskursen und aus den Geschichtskämpfen auszusteigen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wie Meßmer es auf Reisen sieht, dies steht nicht selten im Fokus: „Nicht, ob die Türken oder die Schweden uns leben lassen oder ob wir bei Stalingrad fallen oder bei Tobruk, sondern mit wem wir den Abend verbringen, die Nacht – das ist unsere Lebensfrage.“ Dies sind Passagen, an die man sich auch nach Jahren des ersten Lesens leichthin erinnern kann.
Wenn Wittgenstein sagt, dass die Welt alles das ist, was der Fall ist, dann lässt Walser seinen Meßmer 2013 sagen: „Die Welt ist alles, was verpfuscht ist.“ Und man fragt sich einsam auf seiner Insel vielleicht doch klammheimlich, wo das Positive bleibt, schlägt das Buch zu und hat die Wahl zwischen Dostojewski, Kafka – und einem weiteren Meßmer.

Martin Walser: Meßmers Gedanken, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, 106 Seiten, 13,99 Euro;
derselbe: Meßmers Reisen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 192 Seiten, 7,50 Euro;
derselbe: Meßmers Momente, Rowohlt, Reinbek 2013, 112 Seiten, 14,95 Euro.