von Renate Hoffmann
Neugier auf Capri – eigentlich auf das Oberstädtchen Anacapri, weckte nicht die azurblaue, sonnendurchflutete Werbung eines Reisekataloges, sondern Axel Munthes (1857-1949) Erinnerungen im „Buch von San Michele“. Als es in London 1929 erschien, bescherte es dem schwedischen Arzt, Philanthropen und Naturfreund einen Welterfolg. Er beschreibt darin, neben den Stationen seines, von Höhen und Tiefen geprägten Lebens, diese Insel des Lichts, als wäre sie ein irdisches Wunder – ein Paradies. Und in der Kirche San Michele Arcangelo von Anacapri, so erfuhr ich anderweitig, fände man wahrhaftig „Il paradiso terrestre“, das irdische Paradies. Dergestaltige Aussichten bewogen mich, auf die Suche zu gehen.
Gewiss, aus der Ferne mag man das Eiland, wie es so aus dem Tyrrhenischen Meer aufsteigt, mit freudigen, angelesenen Erwartungen betrachten. Doch im Näherkommen entbietet vorerst ein hoher touristischer Lautpegel den Willkommensgruß. Das Gewühl, Gedränge, Getümmel am Hafen widerspiegelt allenfalls und wohlwollend die Stimmung im Vorparadies.
Als die in engen Kehren sich windende Straße zwischen den beiden Inselorten noch nicht bestand, gab es nur eine Verbindung zwischen unten und oben: Die Phönizische Treppe. Eine Himmelsleiter. Die Angaben zur Stufenzahl schwanken zwischen 777 und „mehr als 800“. Verständlicherweise stellt man nach der fünfhundertsten Stufe das Zählen ein, wischt sich den Schweiß von der Stirn und geht zum Schätzen über. Der letzte Anstieg endet am ehemaligen alten Stadttor von Anacapri, unterhalb Axel Munthes „Villa San Michele“.
Das weißleuchtende Anwesen, gebaut auf dem Boden römischer Geschichte der Kaiserzeit von Augustus und Tiberius, öffnet dem Interessierten gastfreundlich Haus und Garten. Überall trifft man auf das Bestreben des Bauherrn Licht, Himmel und Landschaft (die hier oben wirklich paradiesisch ist) mit der Architektur in Einklang zu bringen. Die Räumlichkeiten, nicht allzu groß, tragen in ihrer Ausstattung die Handschrift des passionierten Sammlers Axel Munthe. Kostbarkeiten mit erkennbarer Vorliebe für die antike Kunst. Man vermeint, die Götterschaft habe sich eingefunden, um unter blühenden Glyzinen großen Rat zu halten. Bruchstücke römischer Herkunft, die beim Villenbau zutage traten, sind dekorativ in Mauern und Wände eingelassen. Sie zwingen zum Betrachten und Nachdenken. Im kleinen Atrium badet die Sonne und wirft Lichtreflexe auf Büsten und bauchige Gefäße.
Unmerklich wechselt die Architektur des Hauses in die des Gartens. Wandeln auf Terrassen, unter Pergolen, über Galerien hinauf zur hochgelegenen Kapelle, die der Villa den Namen gab. Ehe sie von Munthe in den jetzigen kulturvollen Zustand versetzt wurde, diente sie, außer dem Erzengel Michael, verschiedenen Herren. Den Piraten zur Brandschatzung, in den napoleonischen Kriegen als Pulvermagazin und danach den Capresen als Baumaterial.
Ihr zur Seite ruht auf vorgeschobenem Podest eine Sphinx. Sie überblickt Insel, Meer und Festland, die im südländischen Licht liegen und hütet ein Geheimnis. Ihrem Blick folgend, fühlt man sich dem irdischen Kleinkram enthoben, und wohltuende Gelassenheit kehrt ein. Vielleicht doch das Paradies? – Ich gehe noch einmal durch die Räume. In der alten ländlichen Küche ist auf dem großen Herd eine kleine Mausefalle abgelegt. Kein antikes, aber ein nützliches Sammelobjekt.
Unweit der Piazza Vittoria, Anacapris belebter Mitte, und ein Stück die Via Orlandi hinunter, erreicht man die Kirche San Michele Arcangelo. Ihr ungewöhnlicher, als Achteck angelegter Hauptraum birgt ein ungewöhnliches Kleinod. Nicht die Kuppel oder die Altäre – der Fußboden löst Rufe der Überraschung aus. Unvermittelt stehe ich staunend vor dem „Irdischen Paradies“. Die gesamte Bodenfläche trägt den Garten Eden mit Wasser, Luft und Erde und allem was da kreucht und fleucht. Ein bunter Bilderbogen, den man zwar nicht betreten, doch auf einem Umgang bis in die Einzelheiten hinein betrachten darf. Geboren aus überschäumender Fantasie und in Majolika-Arbeit ausgeführt. Um 1719 war der Kirchenbau nach Entwürfen des neapolitanischen Architekten, Bildhauers und Malers Domenico Vaccaro vollendet. Der Künstler Leonardo Chiajese übernahm es einige Jahre später, das „paradiso terrestre“ in Anacapri anzusiedeln.
Eine Augenweide für Naturbegeisterte. Es grünt und blüht inmitten eines erdballumgreifenden zoologischen Gewimmels. Vogelgezwitscher von den Bäumen. Auf Teichen und Tümpeln, schilfbestanden, rudern Enten, Schwan und Haubentaucher. Kraniche stehen in philosophische Betrachtung versunken am Ufer. Die Haustierschar tummelt sich zwischen Elefanten und Löwen. Keiner wird zertrampelt, keiner gefressen. „Concordia“ (frei nach Schillern) gilt als oberstes Gesetz. Deshalb hockt der Fuchs friedfertig neben dem Hasen. Affen treiben lustvoll ihren Schabernack. Das Kamel ist eine Kreuzung zwischen stämmigem Kaltblüter und Känguru; da muss die Evolution noch etwas arbeiten. – Der Papagei krächzt. Ein Krokodil ächzt. / Der Leopard springt. Die Schwalbe singt. / Ein Pfau stolziert. / Das Hündchen friert.
Aus dem Kleintierbereich findet man Igel, Schildkröte und Eidechse. Im Vordergrund, das Mystische betonend, posiert ein Fabelwesen – das Einhorn. Und im Hintergrund leuchten am Morgen- und Abendhimmel Sonne, Mond und Sterne. – Wäre nicht die Geschichte von Adam und Eva, so würde nichts die Eintracht stören. So aber trübt sie die göttliche Natur.
Der Apfelbaum, voll fruchtend, erfüllte bereits seine Mission. Die Schlange züngelt noch im Geäst, aber der Apfel ist bereits gegessen. Leonardo Chiajese erlaubte sich ein Gedankenspiel. In den Baum der Erkenntnis setzte er den Vogel der Weisheit – eine Eule. Damit ist das dendrologische Sündenfall-Gewächs weitgehend rehabilitiert. Zur Fortsetzung des Vorganges und in Vertretung der höchsten Instanz, schwebt ein Flügelwesen hernieder. Mit gezücktem Schwert und ausgestrecktem Arm. Diese Geste kann nur eines bedeuten: „Raus!“ Adam begreift den Ernst der Lage und flieht. Eva versucht durch einen Unschuldsblick die Situation zu retten. Umsonst.
Was nach diesem Fehltritt vom Garten Eden für uns noch übrig blieb, ist durchaus respektabel. Und was die capresische Insel anbetrifft, so behielt sie paradiesische Züge. Milde Luft, Pflanzenreichtum und immerbegrünte Hänge. Im Frühjahr und Herbst wählen Zugvögel auf ihrer großen Reise Capri zur Rast. Ist deshalb so viel Geflatter auf dem Paradiesboden der Kirche San Michele?
Sie kamen alle zum Entspannungs- oder Produktivaufenthalt, besonders in den Wintertagen, nach dem sonnenfreundlichen Stück Erde. Rilke und Gorki, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Nietzsche, Lenin und die Anderen. Claude Debussy bevorzugte als häufiger Gast die naturschöne Umgebung Anacapris. Ginster, Wacholder und Myrte am Monte Solaro und die Bläue von Himmel und Meer hielten Einzug in sein Prélude „Les collines d’Anacapri“ – die Hügel von Anacapri.
Schlagwörter: Anacapri, Axel Munthe, Capri, Leonardo Chiajese, Renate Hoffmann