16. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2013

Nochmals: Reisen nach Jerusalem

von Alfons Markuske

Vor einigen Monaten ist an dieser Stelle Jonathan Philippsʼ „Heiliger Krieg. Eine neue Geschichte der Kreuzzüge“ (Das Blättchen 19/2012) besprochen worden.  Ein 700-Seiten-Wälzer, im Urteil des Rezensenten höchst lesenswert. Und nun folgt ein 800-Seiten-Trumm zum selben Thema – da mag sich mancher fragen, ob das nicht etwas zu viel des Guten ist. Der Rezensent antwortet darauf für sich mit einem klaren Nein. Ja, hätte er das zweite Buch als erstes gelesen, dann wäre ihm die Lektüre des ersteren womöglich überflüssig erschienen – und er hätte sich um das Vergnügen gebracht, intellektuellen Genuss und Erkenntnisgewinn aus der differenzierten Betrachtungsweise beider Autoren und ihrer keineswegs deckungsgleichen Einordnung und Bewertung der historischen Ereignisse sowie ihrer Protagonisten zu ziehen. Das wäre rückblickend schade, aber fast zwangsläufig gewesen – denn Thomas Asbridge, wiewohl er gleich Philipps kein Fachbuch primär für Spezialisten, sondern ein gut lesbares Sachbuch für das interessierte breitere Publikum vorgelegt hat, geht schon vom Ansatz her weit über Philipps und praktisch alle vorherigen abendländischen Autoren hinaus, die sich im 20. Jahrhundert mit den Kreuzzügen befasst haben. Sie alle beschränkten sich mehr oder weniger darauf, diese Periode auf der Basis europäischer Quellen und aus europäischer Sicht zu erzählen. Asbridge hingegen hat den Versuch unternommen, arabische Quellen und Sichtweisen in gleichgewichtiger Weise zu Wort kommen zu lassen, und dem an dieser Stelle allerdings besonders laienhaften Urteilsvermögen des Rezensenten zufolge ist ihm das gelungen. Asbridge bietet somit quasi eine doppelte Kreuzzugsgeschichte und fügt dem, was man dank Philipps und anderer Autoren bereits kennt, eine Fülle faszinierender Aspekte, Hintergründe sowie nicht zuletzt Einsichten und Bewertungen hinzu.
Besonders eindrucksvoll in dieser Hinsicht sind Asbridges ausführliche Schilderungen der Herkunft, der Lebenswege und Machtkämpfe sowie der Herrschaftsausübung und Politik Saladins II. (1137/38-1193) sowie seines unmittelbaren Vorgängers, Nur Ad-Din (1118-1174). Saladin, der Rückeroberer Jerusalems (1187), ist aus islamischer Sicht bis in die Gegenwart die Lichtgestalt der gesamten Kreuzzugsperiode. Er wurde im dritten Kreuzzug zum entscheidenden Antipoden von Richard Löwenherz, der das Geschehen aufseiten der europäischen Invasoren maßgeblich prägte und seinerseits zur (nicht nur britischen) Legende wurde. Die von ihm zu verantwortenden Kriegsgräuel, vor allem die willkürliche Köpfung von fast 3.000 muslimischen Kriegsgefangenen, fochten spätere Heldenverehrer nicht an; sie betrafen ja auch nur Heiden. Auf islamischer Seite war man in dieser Hinsicht allerdings auch nicht kleinlich. Es hat Saladins historischem Heroen-Nimbus keinen Abbruch getan, dass er, wo es um seinen Machterhalt ging, vor Massakern ebenfalls nicht zurückschreckte: Als zu Beginn seiner Zeit als Herrscher über Ägypten (ab 1169) Unruhen unter etwa 50.000 schwarzafrikanischen Soldaten aus dem Sudan ausbrachen, ließ er kurzerhand das al-Mansurah-Viertel von Kairo, wo diese Soldaten mit ihren Familien lebten, abfackeln – „mitsamt dem Besitz, den Kindern und Frauen“.
In den Mittelpunkt seines Werkes stellt Asbridge durchgängig die großen historischen Fragen, die auch heute noch von Interesse sind, weil sie sich in aktuellen Geschehnissen der Gegenwart immer noch stellen: „Wie konnte es geschehen, dass zwei Weltreligionen Gewalt im Namen Gottes billigten? Wie konnten sie ihre Anhänger davon überzeugen, dass der Kampf für den Glauben ihnen die Tore zum Himmel oder zum Paradies öffnen würde? Und warum folgten Tausende und Abertausende Christen und Muslime dem Aufruf zum Kreuzzug bzw. zum Dschihad, in dem vollen Bewusstsein, dass ihnen große Entbehrungen und womöglich der Tod bevorstanden? Es gilt auch zu fragen, ob der erste Kreuzzug, ausgerufen am Ende des 11. Jahrhunderts, ein Akt christlicher Aggression war und warum der Teufelskreis religiös motivierter Gewalt im Vorderen Orient zwei Jahrhunderte lang nicht durchbrochen wurde.“
Beim Heiligen Stuhl dürften Abridges Antworten dabei allenfalls partiell auf Gegenliebe gestoßen sein. Er identifiziert nämlich unzweideutig den Vatikan als Spiritus Rector und Triebkraft der Kreuzzugsidee und der daraus entwickelten Ideologie sowie als konkreten Auslöser der über zwei Jahrhunderte immer wieder aus dem christlichen Europa heraus vom Zaun gebrochenen Feldzüge. Die gingen, außer ins Gelobte Land, auch in Richtung Osteuropa, auf der iberischen Halbinsel südwärts sowie gegen Ketzerbewegungen wie die Katharer in Südfrankreich und waren maßgeblicher Bestandteil des durch das gesamte Mittelalter anhaltenden Kampfes des Papsttums „nicht nur um seine ökumenischen (weltweiten) ,Rechte‘, sondern auch um eindeutige, klare, unbestrittene Autorität über die kirchliche Hierarchie des lateinischen Westens“.
Dass der Islam seinerseits christliche Gebiete einschließlich Jerusalems erobert hatte, steht zwar außer Frage, lag aber zu Beginn der Kreuzzüge bereits Jahrhunderte zurück und war für das Papsttum letztlich mehr wohlfeiler Vorwand als „Glaubenssache“. Seine entscheidende Niederlage hatte der islamische Expansionismus nach Europa jedenfalls bereits im Jahre 732 in der Schlacht bei Tours und Poitiers erlitten, und er war in den 250 nachfolgenden Jahren nie wieder ernsthaft aufgenommen worden.
Das Papsttum seinerseits hatte im mittelalterlichen Europa, in einem gesellschaftlichen Umfeld, das in der Bevölkerung, aber auch in den herrschenden Kreisen maßgeblich vom Sünden-Denken und der Furcht vor ewiger Verdammnis geprägt war, mit dem christlichen Glauben römischer Prägung einen höchst wirksamen Hebel zur Mobilisierung menschlicher wie finanzieller und damit militärischer Ressourcen zur Durchsetzung seiner machtpolitischen Ziele zur Hand. Dieser Hebel musste nur in einer, heute würde man sagen „zielführenden“ Weise am richtigen Punkt angesetzt werden. Der Punkt wurde gefunden; Asbridge schreibt: „Indem das Papsttum das Ideal eines christlichen heiligen Krieges ersann, in welchem alle Akte sanktionierter Gewalt dazu dienen sollten, die Seele des Kriegers von Sünde zu befreien, erschloss es für seine lateinische ,Herde‘ einen neuen Weg zum Heil.“
Das war nun durchaus ein längerer Prozess im Vorfeld des ersten Kreuzzuges, denn dazu musste das an sich – legt man das Neue Testament und insbesondere die Bergpredigt zugrunde – pazifistische Christentum von den Füßen auf den Kopf gestellt werden. Das ist gelungen. „Zur Jahrtausendwende“, so Asbridge, „war es unter christlichen Geistlichen zur Gewohnheit geworden, Waffen und Rüstungen zu segnen, und man beging die Gedenktage diverser ,Krieger-Heiliger‘.“ Die entscheidenden „ideologischen“ Weichenstellungen waren dabei durch die Päpste Gregor VII. und Urban II. vollzogen worden.
In dieses Bild passt nicht zuletzt, dass seitens des Islam eindeutig kein Kriegsgrund vorlag, als Urban II. schließlich im Jahre 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief – wobei der Begriff selbst erst knapp 100 Jahre später, zurzeit des dritten Kreuzzuges, geprägt wurde. 60.000 bis 100.000 Menschen folgten dem Ruf Urbans II., darunter bis zu 70.000 Kombattanten, obwohl es „keinerlei ersichtlichen Hinweis [gab], dass ein gigantischer, nationenübergreifender Krieg unmittelbar bevorstand oder nicht mehr zu vermeiden war. Weder war der Islam im Begriff, eine größere Offensive gegen den Westen zu unternehmen, noch planten muslimische Herrscher des Vorderen Orients ethnische Säuberungen, und sie unterwarfen auch keine religiöse Minderheit anhaltender Verfolgung.“ Überdies war die islamische Welt in sich so zerstritten, dass ein konzentrierter Widerstand gegen den ersten Kreuzzug nicht zustande kam, was zu dessen Erfolg, einschließlich der Eroberung Jerusalems (1099) nicht unmaßgeblich beitrug. Den europäischen Heimkehrern wurde in der Folgezeit der rühmende Beiname hierosolymitani verliehen – „Reisende nach Jerusalem“.
Trefflich ergänzt wird die vorliegende Publikation durch eine Zeittafel und eine Zusammenstellung von historischen Illustrationen.

Thomas Asbridge: Die Kreuzzüge, Klett-Cotta, Stuttgart 2011 (2. Auflage), 807 Seiten, 39,95 Euro