16. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2013

Mit Blutlaugensalz geätzt und neu veröffentlicht

von Thomas Behlert

Wer in der DDR aufgewachsen ist, beschäftigte sich von frühester Jugend an mit Tonträgern, denn diese waren lehrreich und zumeist hochwertig in der Qualität. Märchen drangen dann ständig an kleine Kinderohren, zum Beispiel die kultigen Stimmen von Herrn Fuchs und Pittiplatsch oder vom Wernigeröder Kinderchor eingesungene Kinder-, Volks- und Pionierlieder. Einige Jahre später schwenkte man auf Rock und Pop um und interessierte sich bewusst für die schnuckeligen Jungs auf den Cover (Mädchen!) oder für die tollen Gitarren, die die Musiker lässig in den Händen hielten (Jungs!). Wer so eine Schallplattenhülle entbehren konnte, verdiente sich einige Ostmark. Eine Jimi-Hendrix-Hülle brachte mir so den Eintritt für die Disco und mehrere alkoholische Getränke ein: Mit fünf Ostmark war ein Schulkumpel dabei.
Die Macher dieser Hüllen wurden beneidet, denn sie bekamen angeblich immer die neuesten Lizenzplatten und hatten außerdem noch schöne Poster für die Kinderzimmer des Nachwuchses. So lange es Tonträger, ob nun Langspielplatten, Singles, Quartettsingles oder Kassetten, vom VEB Deutsche Schallplatten gab, ob nun von Amiga, Eterna oder Nova, wurden die Ummantelungen immer im VEB VMW „Ernst Thälmann“, konkret im Werk „Gotha-Druck“, hergestellt, insgesamt 8500.
Im Nachhinein wurde die Herstellung der „Taschen“ gern als Sorgenkind bezeichnet, da man bei „Gotha-Druck“, – der Betrieb zeichnete verantwortlich für das künstlerische Design der Plattenhüllen – bis zu einem halben Jahr benötigte, von der Überlegung, wie man an das vom VEB Deutsche Schallplatte gelieferte Material herangehen wollte, bis zur Ablieferung der Druckvorlagen. Umbesetzungen einer Band während der Produktionsphase konnten nicht berücksichtigt werden. Aufwendige Gestaltungen wie Klappcover, Einschiebungen oder besondere Farben waren fast unmöglich. Musiker hatten nur wenig Mitspracherecht, auch wenn das Cover einfallslos oder von übelster Qualität war.
An der Erstellung eines Covers arbeiteten etwa 20 Personen, unter anderem Fotografen, Drucker, Meister und eben Retuscheure. Zunächst entstanden Rasterfolien, wobei die Schrift immer extra aufgenommen wurde und zu bedenken war, dass in Spiegelschrift gearbeitet werden musste. Die vom Fotografen hergestellten Negative wurden dann mit Pinseln und Schabern bearbeitet und an einem besonderen Tisch mit Blutlaugensalz und Natronlauge geätzt. Jede Farbe hatte ihre eigene Ätzung und wurde auf einer extra Folie gerastert. So ging es von der Retusche über die Montage und die Druckplattenherstellung bis hin zum Probedruck. Jede Farbe ging dabei einzeln in den Druck, und der Drucker musste die Maschine immer wieder säubern, damit nicht Reste von Schwarz das Gelb verschmutzten.
Oft kamen plötzlich andere Aufträge dazwischen, mussten etwa Kalender für den Solidaritäts-Basar oder Wahlplakate für die Parteikreisleitung gedruckt werden. An Fotos für Gisela May- und Helene Weigel-LPs mussten die Lithografen besonders lange schaben und ätzen, denn es sollten der unvorteilhafte Bauch verschwinden sowie die altersbedingten Falten im Gesicht und an den Händen. Und es war normal, dass im Land des Mangels manchmal kein Werkzeug für die Vollendung eines Covers zur Verfügung stand. Mit etwas Valuta (vom Staat genehmigtes „Westgeld“) konnte dann der verantwortliche Meister Schaber, Pinsel, Abdeckfarben, Tesa-Band (!) und Arkansas-Ölsteine zum Schärfen der Schaber besorgen.
Wer in der DDR keine Lizenzplatten ergatterte und somit nicht über Beziehungen verfügte, verbreitete stattdessen das Gerücht, dass die Mitarbeiter von „Gotha-Druck“ alle LPs hatten. Doch dem war nicht so, wie eine Aussage einer ehemaligen Druckerei-Mitarbeiterin verdeutlicht: „Unsere Brigade bekam pro Album zehn Stück, wir waren aber zwanzig Leute. Es wurde immer eine Liste abgearbeitet. Gerne hätte ich da für meinen Sohn Santana gehabt, bekam aber Peter Alexander zugeteilt.“
Oft künstlerisch mies waren viele Cover von Klassikplatten aus dem Hause Eterna, die allerdings immer mit wundervoller Musik „belegt“ wurden. Das weiß vor allem das heutige Label Edel, das die Hoheit über den gesamten DDR-Katalog hat und unter der Bezeichnung „Berlin Classics“ neue alte Einspielungen auf dem Markt bringt. Mal ist sind die verdammt preiswert, dann wieder hochpreisig und als Serie getarnt. Derzeit macht Edel etwas ganz Verrücktes: Es veröffentlicht ausgesuchte Aufnahmen auf LP. Jede der Veröffentlichungen entspricht komplett der ursprünglichen DDR-Ausgabe. Die Plattentaschen sind nicht verändert worden und auch nicht die großformatigen Beilagenhefte, die Liebhaber von DDR-Klassik-LPs bestimmt bis heute ihr eigen nennen.
Diese gerade erschienene limitierte Auflage wird entweder unverkauft im Wust vieler klassischer Neuerscheinungen untergehen oder von audiophilen (verrückten?) Vinylfans mit zittrigen Händen an die Kasse getragen werden. Letzteres wäre allen Beteiligten zu wünschen. Auf fünf Aufnahmen hat man sich geeinigt, die schon in der Vergangenheit die Musikwelt begeisterten und bis heute jedem Vergleich standhalten. Da darf natürlich Wagner nicht fehlen, der im Osten gern ausgespart wurde und nur selten zur Aufführung kam. Doch der Leiter des Leipziger Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Herbert Kegel setzte sich gegen alle Widerstände für die Wagnerische Musik ein und schuf gemeinsam mit Rene Kollo, Peter Adam und den Thomanern eine gewaltige Aufnahme des „Parsifal“, die Bombast verbreitet, aufrüttelt und auch heute noch eine Gänsehaut erzeugt. Daneben gibt es die 4-fach-LP der „Matthäus Passion“ von Bach, mit der man wieder die Kantorenbrüder Rudolf und Erhard Mauersberger erleben kann, wie auch die Sangeskünstler Peter Schreier, Theo Adam, den Dresdner Kreuzchor und den Thomaner Chor Leipzig. Beethoven ist durch die Messe „Missa solemnis, op. 123“ vertreten, die der Maestro Masur mit namhaften Mitmusikern überzeugend aufführt und das humanistische Ideal voll zum Ausdruck bringt und die Vermittlung von Glaube und Aufklärung mit jedem Ton aufzeigt; damit ist ein insgesamt immer noch aufregendes, zum Zuhören zwingendes Musikstück neu gepresst wurde. Ottmar Suitners Mozart-Interpretation der „Entführung aus dem Serail“ ist legendär, da voller Dramatik und Aufregung. Entstanden ist die Oper in der Dresdner Lukaskirche mit Hilfe der Staatskapelle und des Chores der Staatsoper Dresden.
Wer seine alte Sammlung durch diese hochwertigen Vinyls ersetzen möchte oder als Neuling zur Klassik-LPs greift, sollte sich beim erneuten Hören die Peter Schreier-Einspielung „Die schöne Müllerin“ bis zum Schluss aufheben, denn sie ist voller Schönheit und Tiefgründigkeit. Man merkt, dass Franz Schuberts zunächst heitere und beschwingt klingende Lieder wenig später in tiefe Abgründe führen und somit die vermeintlich heile Welt in Luft auflösen.
So kann Klassik auf Schallplatte immer wieder ein phantastisches Hörerlebnis sein.