von Stephan Wohanka
Kaum hatte Benedikt abgedankt, fanden sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die ersten Talk-Runden zum Thema zusammen. Die wohl erste spät abends verfolgte ich. Zusammen saßen die üblichen Verdächtigen: Neben anderen ein Journalist und glühender Benedikt-Jünger, ein früherer Jesuitenzögling und ein vormaliger Fernsehpfarrer. Letzterer hatte einen klugen Gedanken: Wenn der Papst – ich vereinfache und vulgarisiere, wobei der spätere Disput sich nicht erheblich davon abhob –, wenn also der Papst den Bettel einfach hinwürfe, könnten da nicht auch Eheleute das Gleiche tun? Über alle sonstigen Differenzen hinweg wurde der Mann mit vereinten Kräften niedergemacht…
Im Sakrament der Ehe heißt es: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“. Wenn aber der Papst Gottgefügtes zur Disposition stellt, wieso sollten dann Ehepartner bis zum Tod aneinander festhalten müssen? Zumindest eine vernünftige Frage; später wurde dieses Argument mehr oder weniger deutlich wiederholt. Mich interessiert seine Substanz! Und zwar vor dem Hintergrund dessen, dass eine, wenn nicht die Dominante in Benedikts Wirken in einem regelrechten Feldzug gegen den „Relativismus“ bestand. Es soll hier nicht um eine Auseinandersetzung zu möglichen Definitionen des Begriffes gehen; daher bekommt Benedikt direkt das Wort. 2005, noch als Kardinal und Chef der Glaubenskongregation, der vormaligen Inquisition also, sagte er: „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird (dagegen) oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, also das ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung sich Hin-und-hertreiben-Lassen’, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“ (Hervorhebung, auch unten – St. W.). Mit anderen Worten – zeitkonforme Maßstäbe können nicht gelten, wenn es, aus kirchen-, respektive glaubensimmanenter Sicht, um höchste Werte geht. Die damaligen Worte Kardinal Ratzingers wurden übrigens von nicht wenigen auch als „Bewerbung“ für das Amt des Papstes verstanden wurden.
Lese ich – ideell so gerüstet – dann im Text seiner Abdankungserklärung den Satz: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben“, dann kann ich zumindest sehr wohl „ als letztes Maß“ seiner Entscheidung „das eigene Ich und seine Gelüste“ erkennen! Daran ändert auch der Einschub „vor Gott“ nichts Grundsätzliches!
Benedikt hat sich also als der Episcopus Romanus, als Vecarius Iesu Christi und Summus Pontifex Ecclesiae Universalis etcetera eindeutig eigene Maßstäbe gegeben. Im Lichte göttlicher Ewigkeit ist Benedikts Rücktritt folglich auch unterschiedlich interpretiert worden – vom weisen Entschluss zum Wohl der Kirche bis hin zu Fahnenflucht. Mir als Nichtkatholiken kommt es nicht zu, diesen Rücktritt gutzuheißen oder auch nicht. Das ist eine kircheninterne Angelegenheit. Und auch der Kontrast, den Benedikt zu seinem in den Sielen sterbenden, ja dahinsiechenden Vorgänger, Johannes Paul II, dadurch schafft, dass er eben vor seinem physischen Tod die sogenannte Sedisvakanz zur Neuwahl eines Papstes ermöglichte, will ich nicht bewerten.
Aber ich nehme mir schon das Recht, meinen Verstand ins Spiel zu bringen bei einem, dem „Gott selbst Logos, […] Sinn, Vernunft, Wort“ ist. Denn hinter diesem auf den ersten Blick unschuldigen päpstlichen Denkvorgang steckt der robuste Wille der (katholischen) Kirche zur generellen Vereinnahmung der Vernunft: „Wenn der katholische Glaube … beansprucht, die Zusammenfassung und Vollendung der Vernunft zu sein, … dann ist leicht zu verstehen, daß dieser Anspruch die Gefahr in sich birgt, sich aufzwingen zu wollen …“ (Paolo Flores d´Arcais). Nur ein Beispiel: Auf seiner Brasilienreise im Mai 2007 ließ Benedikt die lateinamerikanischen Völker wissen, dass „ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen Traditionen“ Christus, den unbekannten Gott „suchten … Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur“. Die von den conquistadores unter dem Kreuz dahin Gemeuchelten und ihre Zeitgenossen dürften das diametral anders gesehen haben…
Doch zurück zum Relativismus „als letztem Maß des nur eigenen Ichs und seiner Gelüste“. Ist nicht auch der Glaube unbeschadet aller nachfolgenden theologischen Überhöhungen nicht erst einmal eigenes Ich und Gelüst? Ich will es erläutern. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker glaubte an einen Gott. Prägend bis in sein hohes Alter blieb ein jugendliches Erweckungserlebnis, das „Erlebnis der Nacht”. In seiner biografischen Schrift „Selbstdarstellung” beschrieb der 64-Jähriger es genauer: „Zu meinem 12. Geburtstag, im Juni 1924, wünschte ich mir eine drehbare, also auf Tag und Stunde einstellbare Sternkarte. Mit meiner Karte entwich ich von den Menschen in die warme, wunderbare Sternennacht, ganz allein. Das Erlebnis einer solchen Nacht kann man in Worten nicht wiedergeben, wohl aber den Gedanken, der in mir aufstieg, als das Erlebnis abklang. In der unaussprechlichen Herrlichkeit des Sternenhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wußte ich, daß die Sterne Gaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik genügten. Die Spannung zwischen diesen beiden Wahrheiten kann nicht unauflöslich sein. Wie aber kann man sie lösen? Wäre es möglich, auch in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu finden?“ Hier geht der Gottesglaube auf ein individuelles Elementarerlebnis ohne die Dazwischenkunft einer wie auch immer gearteten „Institution“ zurück. Eine solche Transzendenz hat etwas Faszinierendes an sich, dem ich auch ich unterliege, selbst wenn ich sie im Hinblick auf Weizsäckers Konsequenz, den (Gottes)Glauben nicht teile. Gott ist dabei Objekt der Vokation, also der Anrufung und nicht Gegenstand einer Rede über ihn.
Ob man nun ein Erweckungserlebnis hatte oder nicht, auf welchen Wegen auch immer man zum (Gottes)Glauben gekommen ist – dieser Glaube beinhaltet zwei Momente: Innere Gewissheit und ein Sich-Bekennen. Erstere trage ich in mir (oder auch nicht), letzteres ist in jedem Falle ein aktiver Akt – man muss sich bekennen, muss also den eigenen Glauben bezeugen. Anders gesagt, (innere) Gewissheit entsteht, wächst – wodurch auch immer; Erziehung, Tradition und anderes spielen dabei eine Rolle. Glaube jedoch muss bewusst gewollt, hergestellt, bekannt werden! Insofern unterscheidet er sich nicht von jedem anderen Willensakt oder eben Glaubensakt – was auch immer dessen Inhalt oder „Gewissheit“ im Sinne von Überzeugung sei. Damit ist der christliche Gottesglaube nichts exklusives, sondern ein Glaubensbekenntnis unter vielen; es kann an vieles geglaubt werden, und das wird es bekanntlich auch.
Damit ist klar, dass Glaube offenbar eine Kultur der Individualisierung voraussetzt; in der der Einzelmensch aus seinen (früheren) Herkunftsbeziehungen der Gruppe, des Stammes und so weiter herausgelöst ist. Erst dieser von Gruppenzwang freie Einzelne, der Selbstbestimmte kann glauben und demnach dem Persönlichsten folgen – dem eigenen Glauben, so wie das von Weizsäcker beschreibt. Möglicherweise geht der Verlust des Gruppendrucks und die Ausbildung der Individualität historisch einher mit dem Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus. Jedenfalls ist der Glaube erst einmal ein individueller Akt; wobei dem nicht entgegensteht, dass durch die Massenhaftigkeit der einzelnen Glaubensakte ein Massenphänomen entsteht – Millionen von Menschen glauben (an Gott). Und rein äußerlich geht das Individuell-Persönliche sozusagen wieder „unter“, verschwindet also in der „Menge“. Trotzdem, wie ein Theologe feststellt, bleibt es dabei: „Christsein ist die Folge des willentlichen Entschlusses, Christ zu werden“. Und den Willen zum Glauben muss jeder Mensch selbst haben. Folgerichtig heißt es auch im Apostolicum, dem ältestes christliches Glaubensbekenntnis, das allen christlichen Kirchen gemeinsam ist und nach der Überlieferung von den Aposteln in Jerusalem aufgestellt worden sein soll: „Ich glaube an Gott, den Vater …“.
Bekräftigt wird diese Sicht des Glaubens als Ausdruck des Ichs dadurch, dass in der Bibel nur Taufen von erwachsenen Menschen bezeugt sind; Säuglingstaufen sind der Bibel fremd. Christus selbst segnete Kinder lediglich, siehe Lukas 18,16. Nur eine persönliche, willentliche Bekehrung, eigenes „Gelüst“ also, führt zum Heil in Jesus Christus.
Abschließend: Benedikt, der gegenüber den Gläubigen so viel Strenge bewies und kaum zum Einlenken zu bewegen war, zeigt nur „Gelüst“ sich selbst gegenüber. Irgendwo las ich jetzt: „Fast acht Jahre später hat sich Benedikt XVI. auf das eigene Ich besonnen und damit einen alten Satz aus der Naturwissenschaft bestätigt: Alles ist relativ“. Recht hat der Autor.
Schlagwörter: Benedikt XVI., Christentum, Glauben, Gott, katholische Kirche, Stefan Wohanka