von Heerke Hummel
Als „bahnbrechend“ wird Frank Schirrmachers neuestes Buch „EGO“ im Klappentext des Verlages qualifiziert. Da darf der Leser bedeutendes Neues zu lesen hoffen. Wird solche Erwartung durch den Autor, der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist, erfüllt?
Zur Absicht des Buches schreibt Schirrmacher selbst: „Es wurde ausgelöst von der Krise, aber nicht von ihren ökonomischen Erscheinungen, sondern von ihren gesellschaftlichen. Die Krise ist nur ein Symptom. Sie zeigt die Instabilität nicht nur von Märkten, sondern von Gesellschaften, in denen Gesellschaften wie Märkte und Menschen als ‚homo oeconomicus‘ organisiert werden. In meinen Augen: der erste Fall eines Systemversagens der Informationsökonomie.“
Das klingt, sieht man einmal von dem Begriff „Informationsökonomie“ ab (an anderer Stelle spricht der Autor von „Informationskapitalismus“ und meint damit das heutige, computergestützte, hochgradig datenverarbeitende ökonomische System), nach Analyseergebnissen, zu denen Marx schon vor zirka 150 Jahren gekommen war. Zwar ist dieser dem Autor kein Unbekannter, dies aber wohl nur dem Namen nach. Sein eigentliches Werk scheint Schirrmacher nicht zu kennen, zumindest nicht verstanden zu haben. Das ist für die Frage, um die es hier geht, umso bedeutungsvoller, als Marx ja bekanntlich nicht nur das kapitalistische System und seine zu Krisen führenden Widersprüche überhaupt erklärte. Auch die Entfremdung des Menschen im kapitalistischen Reproduktionsprozess ist ein, wenn nicht das zentrale Thema Marxschen Denkens und Philosophierens.
Auch Frank Schirrmachers vorliegendes Buch kreist, dem Wesen nach und im Wesentlichen, um dieses Problem. Denn die Entfremdung betrifft seit geraumer Zeit nicht mehr vor allem das Proletariat als unterdrückte Klasse, sondern hat, auf ganz neue Weise, quasi die ganze menschliche Gesellschaft erfasst, über alle sozialen und Ländergrenzen hinweg. Der Mann vom Blatt des Großbürgertums hat eine beeindruckende Menge an Informationen über Tatsachen und Meinungen – vor allem die Ablösung menschlicher Entscheidungen durch blitzschnelle, computergestützte Datenberechnungen mittels mathematischer Modelle auf der Grundlage der Spieltheorie betreffend – gesammelt und journalistisch meisterhaft zu einem systemkritischen Sachbuch verarbeitet.
Die Botschaft: Nach dem Ende des Kalten Krieges seien dessen geistige Strategen vom militärischen Kampffeld in die Ökonomie, vorzugsweise ins Bank- und Finanzwesen gewechselt. Es waren Physiker und Mathematiker, die nun auch in diesem Bereich auf der Grundlage der Spieltheorie mathematische Modelle konstruierten, ausgehend von dem Axiom, „dass jeder eigennützig handelt und den anderen reinlegen will. Wer das akzeptierte, handelte vernünftig.“ Die Folge war, dass seitdem auch die Ökonomie von „Mensch-Maschine-Mischwesen“ beherrscht wird. In diesem System sei das rationale Individuum eine Rechenmaschine. Es sei „reduzierbar auf das, was es egoistisch will und wählt, seine sogenannten Präferenzen, und die lassen sich mathematisch berechnen. Die Formalisierung der Ökonomie durch mathematische Formeln … erlaubt, dass man Individuen tatsächlich nur noch als ‚mathematische Objekte sieht‘“. Solche Annahmen über den Menschen seien auf eine derart radikale Weise vereinfachend, dass „,das Individuum auf den Punkt eines Nichts heruntergebrochen wird, mit Ausnahme der Eigenschaft seiner automatenhaften Präferenzen‘“. Hier, wie in den meisten Fällen, zitiert Schirrmacher aus der englischsprachigen Literatur.
Das Problem sieht der Autor gar nicht in den simplifizierten Modellen, sondern darin, dass „diese Modelle die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden. Und nicht nur das: sie entscheiden darüber, was rational ist und was nicht.“ An anderer Stelle wird auch von selbsterfüllenden Prophezeihungen gesprochen. Es seien Modelle, die nicht nur auf das Verhältnis zum Gegenspieler zielen, sondern auf das Verhältnis des Menschen zur Welt.
Das mag sein. Doch was ist daran neu? Etwa, wie Schirrmacher meint, „dass jetzt ausschließlich die egoistische Motivation zählte und dass in ihrem Bilde eine ganze Gesellschaft modelliert werden sollte“? Entspricht nicht die ganze geschichtliche Realität des Kapitalismus, einschließlich der ihm geschuldeten zwei Weltkriege, des nationalen Egoismus‘ und des Völkerhasses, bekanntermaßen diesem ausschließlichen Egoismus?
Allerdings: Die elektronische Verarbeitung riesiger Datenmassen und der Einzug der Mathematik in die „Planung“ von Modellen eröffneten der Jagd nach Profit und der Manipulation des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt natürlich neue Möglichkeiten – so wie jeder wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Vergangenheit. Doch es ist eben der gleiche Egoismus als treibende Kraft! Diesen Egoismus nicht auf die Verabsolutierung des Privaten und der bedingungslosen Freiheit des Individuums im bürgerlichen Bewusstsein zurückzuführen, gehört zu den wesentlichen Schwächen des hier besprochenen Buchs. Gerade mit einer dialektisch ausgewogenen Betrachtung des Verhältnisses von Privatem und Gesellschaftlichem unter den heutigen technisch-ökonomischen Bedingungen hätte Bahnbrechendes vollbracht werden können. Denn die Frage, die sich Politiker heute zur Krisenbewältigung zu stellen und zu beantworten haben, müsste lauten: Was ist noch Privatsache von Personen, und wo beginnt etwas, öffentliche Angelegenheit von gesellschaftlichem Interesse zu werden? Wo müssen zum Beispiel heute die Grenzen für Privatvermögen, für Lohn- und Einkommensrelationen, für Handlungsbefugnisse, -spielräume und so weiter liegen, damit die menschliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ökonomisch-ökologisch, sozial und politisch aus der Krise und in einen Zustand des Gleichgewichts kommt? Es sind Fragen, die wissenschaftlich fundiert zu beantworten wären und sicherlich zu bedeutenden rechtlichen Konsequenzen führten. Niemand möge sagen, das sei alles Utopie, die Welt sei (noch) nicht so weit! Die Krisen und Konflikte machen deutlich, dass die Welt für Veränderungen überreif und dass neues Denken in neuen Dimensionen dringend angesagt ist.
Statt solche Anstöße zu geben, beklagt Frank Schirrmacher „die Ära selbsterfüllender Prophezeiungen“, in die wir längst eingetreten seien. Und er warnt vor der Gefahr, dass dies erst der Anfang einer Zeit der „künstlichen Monster“ sein könnte, dass „Maschinen die Kontrolle über unsere Welt übernehmen“. Mehr ist in, respektive von der bürgerlichen Welt wohl nicht zu erwarten. Denn: Ein Systemfehler des Ausmaßes, mit dem wir es heute zu tun haben, müsste zwar, nach Schirrmachers Ansicht, „eine große Revision einleiten“, denn das ganze wissenschaftliche Gebäude sei zusammengebrochen (hier beruft er sich auf Alan Greenspan); allerdings seien die Beteiligten davon völlig ungerührt, ohne Selbstkritik, ohne Zweifel. Es ist eine Klage über den „verantwortungslosen Wissenschaftler“ mit den Fähigkeiten eines Autisten, der ein Monster erschuf.
Eine der Grundfragen unserer Zukunft wird sein, so der Autor, „wozu wir die Maschinen erziehen, ehe sie nicht nur in automatisierten Finanzmärkten, sondern auf allen Gebieten so erwachsen geworden sind, dass sie uns selbst erziehen“. Und an welchen Ausweg denkt Schirrmacher da? Nach Lage der Dinge könne er nur darin bestehen, „die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu trennen“. Das klingt sehr nach Moralpredigt. Und so kann schließlich Schirrmachers seichte Hoffnung auf eine Lösung des Problems nicht überraschen: „Vielleicht ist es ganz einfach: nicht mitspielen.“ Das sei eine Entscheidung, die nur der Einzelne treffen kann – und die Politik.
Wenig Grund zum Optimismus!
Mit seinem Buch hat Frank Schirrmacher bereits große Aufmerksamkeit und viel Zuspruch gefunden, aber auch etliche Kritiker auf den Plan gerufen, die ihm vorwerfen, „auf der Klaviatur der linken Fundamentalopposition“ zu spielen, und die offensichtlich nicht verwinden können, dass, wie Jakob Augstein es auf Spiegel Online genannt hat, die Kapitalismuskritik inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen ist. Von Verrat ist gar die Rede.
Frank Schirrmacher, EGO. Das Spiel unseres Lebens, Karl Blessing Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Frank Schirrmacher, Heerke Hummel, Kapitalismus, Kapitalismuskritik