von Pia Lerner
Angelica – wer? Balabanoff? Nie gehört. Es waren keine Analphabeten, die ich auf ein Buch aufmerksam zu machen suchte, das mir kurz vor Weihnachten in die Hände gefallen war, sondern wissenschaftlich und politisch gebildete Freunde. In diesem Band werden – erstmals seriös ediert – die Erinnerungen einer Frau an Lenin vorgelegt, die während des Ersten Weltkriegs, in der russischen Revolution von 1917 und in den ersten Sowjetjahren zu seinem engsten Umfeld gehörte, 1921 von den Bolschewiki und ihren Methoden aber so die Nase voll hatte, dass sie lieber wieder in die Emigration ging.
In den Amtstuben Sowjetrusslands hatte ihr Bild 1919 neben denen von Lenin und Trotzki gehangen: einer polyglotten Jüdin aus der russischen Großbourgeoisie, die ihrer Klasse aus dem Nest gefallen war. Während des Weltkrieges hatte Angelica Balabanoff (1869–1965), die seit 1912 Vorsitzende der Sozialistischen Partei Italiens war, in der Schweiz die Zimmerwalder Bewegung organisiert. Hier vereinigten sich die wenigen europäischen Sozialdemokraten, die nach Kriegsausbruch nicht vergessen hatten, was sie zuvor gelobt hatten, und koordinierten ihre Aktionen. Aus dem linken Minderheitenflügel um Lenin ging 1919 die Kommunistische Internationale hervor, Angelica Balabanoff wurde ihre Sekretärin.
Damals kannte in Europa jedes Kind diese – von den einen geliebte, von den anderen gefürchtete und gehasste – Frau, die vor dem Weltkrieg eng mit August Bebel, Jean Jaures, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Leo Jogiches zusammengearbeitet hatte. In der Einleitung wird berichtet, dass Angelica Balabanoff nach ihrer Ausreise aus Sowjetrussland im Wien der zwanziger Jahre mit wenigen Büchern, vielen zerlesenen Zeitungen und einem verrußten Petroleumkocher, auf dem sie sich ihren Tee bereitete, von einem Untermietszimmer zum anderen gezogen und im Frankreich der dreißiger Jahre beinahe verhungert sei. Überlebt habe sie nur, weil italienische Freunde, die vor der faschistischen Diktatur Benito Mussolinis geflohen waren, sie 1935 in die USA holten.
Noch Jahrzehnte nach ihrer erneuten Emigration hatte Angelica Balabanoff – trotz Stalinismus und Massenterror – gehofft, dass die Diktatur der Bolschewiki einen Sozialismus und nicht nur seine schauerliche Karikatur freisetzen könne. Erst die Niederschlagung der ungarischen Revolution im Herbst 1956 habe sie vom Gegenteil überzeugt: Der Erhaltung der Macht war zwangsläufig alles andere untergeordnet, das Mittel längst zum Zweck verkommen, und zwar unumkehrbar.
Erst jetzt machte sich Angelica Balabanoff an ihre Erinnerungen an Lenin: „So mancher – Freund oder Feind – identifiziert die Ergebnisse des Regimes der Bolschewiki mit Lenins Absichten, während in Wirklichkeit zwischen dem, was Lenin schaffen wollte, und dem, was er tatsächlich schuf, ein unüberbrückbarer Abgrund besteht, der sich immer mehr vertieft. Man steht hier vor einer tiefen, unermesslichen Tragödie. Es zeigt sich, dass die Absicht, selbst wenn sie von noch so edlen Motiven und Intelligenz geleitet und mit einem noch so starken Willen und einem unerschütterlichen Mut verfolgt wird, nicht verwirklicht werden kann, wenn sie sich über die ehernen Gesetze der sozialen Entwicklung hinwegzusetzen sucht. Die Tragödie eines solchen Menschen wird umso furchtbarer, wenn er sich an dem vergeht, was er selbst andere gelehrt und als Leitstern des Denkens und Handelns für ganze Generationen verkündet hatte.
So erging es Lenin, als er sich anmaßte, die wirtschaftliche Entwicklung eines Riesenlandes und das Klassenbewusstsein seiner werktätigen Bevölkerung durch Gewalt und Totalitarismus zu ersetzen, als er daran ging, im Kampfe um die Befreiung einer unterdrückten und ausgebeuteten Klasse dieselben Mittel zu verwenden, die die von ihm bekämpfte, zum Niedergang verurteilte Klasse im Laufe ihrer Herrschaft über die besitzlosen, ausgebeuteten Volksmassen verwendet und vervollkommnet hatte.“
Angelica Balabanoff hat erst in ihren letzten Lebensjahren, als der italienische Staat sich entschloss, ihr eine Rente zu zahlen, wieder eine eigene Wohnung beziehen können; bis dahin hatte sie sich jahrzehntelang als Untermieterin durchgeschlagen. Das war ihr aber allemal lieber als die Alternative: „Gezwungen zu sein, so zu leben, wie die Bolschewiki leben, von Schmeichlern umgeben, Vorrechte aller Art zu genießen und mir die Verwünschungen ihrer unzähligen, gemarterten Opfer zu verdienen, für ihre Schandtaten durch meine Gegenwart die Verantwortung mit zu übernehmen, das wäre meine – schreckliche – Strafe gewesen.“
Angelica Balabanoff: LENIN oder: Der Zweck heiligt die Mittel, Karl Dietz Verlag, Berlin 2013, 192 Seiten, 22,00 Euro
Das XXL 1 dieser Ausgabe enthält einen Auszug aus diesem Buch.
Schlagwörter: Angelica Balabanoff, Karl Dietz Verlag, Kommunistische Internationale, Lenin