16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Die letzten Deutschen

von Wolfgang Brauer

Zu Beginn des Jahres 1945 lebten in der ehemaligen Provinz Schlesien etwa 4,5 Millionen Deutsche. Dass in einer Provinz des Deutschen Reiches Deutsche lebten wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn im Laufe jenes Jahres Schlesien dem Reiche nicht abhanden gekommen wäre. Die Gründe sind bekannt. Mit dem Ende der Vertreibungen infolge der „Westverschiebung“ Polens in den Jahren 1946/1947 blieben dort noch etwa 1,35 Millionen Deutsche übrig. Es soll an dieser Stelle nicht über die Vertreibungen geschrieben werden. In der DDR nannte man die davon Betroffenen „Umsiedler“, das klang harmloser. Und die Geschichte der langsamen Aufweichung des schlesischen und pommerschen und ostpreußischen Tabus wäre eine eigene Untersuchung wert, und da wäre auch über Schriftsteller zu erzählen, die nicht den Nobelpreis erhielten und mit erheblich heftigeren Pressionen zu tun bekamen als mit den wütenden Attacken eines einzelnen bundesdeutschen Großkritikers. Christa Wolf zum Beispiel und Johannes Bobrowski oder auch Hildegard Maria Rauchfuß.
Nach 1947 lebten noch 1,2 Millionen Deutsche in Oberschlesien. Sie waren zumeist zweisprachig und durften daher auswählen: Gehen oder Annahme der polnischen Staatsbürgerschaft. Etwa 150.000 Deutsche blieben in Niederschlesien. In der Regel waren dies Fachkräfte mit ihren Familien, die zum Beispiel für die Wiederinbetriebnahme der Kohlegruben des Waldenburger Reviers gebraucht wurden. Die in Polen im Jahre 2002 durchgeführte Volkszählung ergab, dass nur noch 1,61 Prozent aller Schlesier sich als Deutsche definierten – genau 140.895 Personen.
Soweit die Zahlen, und Zahlen allein sagen gar nichts. Hinter jedem Einzelnen steckt ein Schicksal, das uns Nachgeborenen kaum nachvollziehbar erscheint. Wer sich allerdings der Mühe unterzieht, in den verborgenen Sedimenten der eigenen Familiengeschichte zu schürfen, wird möglicherweise fündig werden. Hans-Dieter Rutsch hat dies getan und jetzt mit „Die letzten Deutschen. Schicksale aus Schlesien und Ostpreußen“ ein bemerkenswertes Buch vorgelegt, das sich jeder registrierenden Schublade verweigert. Ein Reisebuch, ein Geschichtsbuch, ein Stück dokumentarischer Prosa – von allen etwas und insgesamt doch ein sehr eigenwilliger Essay, dem man den Beruf seines Autors anmerkt. Das ist für den Leser nicht zum Nachteil. Rutsch ist Dokumentarfilmmacher.
Als Kind wurde er eher unfreiwillig auf dieses Thema gestoßen. Der Vater schleppte die Familie im Jahre 1965 nach Nowa Sól in der Woiwodschaft Lebus – er wuchs dort auf und wollte wohl dem Sohn die Wurzelorte der Familie zeigen. Damals hieß die Stadt allerdings Neusalz und gehörte zum Landkreis Freystadt in der schon erwähnten Provinz Schlesien, genauer in Niederschlesien. Die gut organisierten Erinnerungstouren der Landsmannschaften, die dank der Aktivitäten der „Preußischen Treuhand“ in den letzten 20 Jahren in Polen oftmals einen unangenehmen Eindruck hinterließen, gab es damals noch nicht. Man fuhr individuell mit dem „Trabant“, allein das ein Abenteuer. Rutsch erzählt von dieser Reise und von der Begegnung mit Herbert, dem Schulfreund des Vaters und seiner Familie, und es breitet sich unversehens ein Panorama der jüngsten deutsch-polnischen Geschichte vor dem Leser aus, das – obgleich vollkommen unspektakulär erzählt – stellenweise den Atem stocken lässt. Der Autor praktiziert diesen Erzählstil auch bei den Geschichten von Waltraut und Gabriela, von Bogdan und Otto. Er folgt den Spuren des Großvaters von Neusalz über Bunzlau in das Riesengebirge, begegnet dort Gerhart Hauptmann und Lisa Pohl.
In Groß Döbern (Dobrzeń Wielki im heutigen Powiat Opolski) treffen wir mit ihm Pater Thomas Motzko und lernen das Schicksal von dessen Mutter Agnes kennen. Über Groß Döbern hatte Rutsch bereits im Jahre 2005 für den Westdeutschen Rundfunk eine Dokumentation in der Reihe „Als die Deutschen weg waren“ gedreht. Das ist nun Oberschlesien. Eine seit Jahrhunderten umkämpfte Region: „Ein echter Schlesier ist ein Mensch, in dessen Brust drei Herzen schlagen. Das deutsche, das polnische und das mährische“, sagt Alfons Nossol, ehemaliger Erzbischof von Opole. Ein Deutscher, der polnischer Bischof wurde und Johannes Paul II. 1983 auf dem oberschlesischen Annaberg begrüßte. An wenigen Orten treten die Konflikte der schlesischen Geschichte so deutlich zutage wie an diesem der heiligen Anna geweihten Wallfahrtsort. Hier wurden 1921 erbitterte Kämpfe zwischen polnischen Truppen und deutschen Freikorpsverbänden ausgetragen, der Berg wurde in der Folge zu einem wichtigen Wallfahrtsort der polnischen Katholiken und zum Racheobjekt der deutschen Nationalisten. 1939 wurden die polnischen Messen in der Wallfahrtskirche verboten. Auf dem Annaberg nahm die SS „Selektionen“ europäischer Juden vor.
In solch blutgetränkter Landschaft ist es schwer, die eigene kulturelle Identität – die mit dem Ende des Krieges zu einer Minderheitenidentität wurde – zu bewahren. Hans-Dieter Rutsch lässt davon die Breslauerin Waltraut erzählen. Auch von den unerwarteten Schwierigkeiten, die nach dem Fall des „Eisernen Vorhanges“ auftauchten: „Ich wollte endlich als Deutsche leben, ohne mich ducken zu müssen. … Allerdings missfiel mir auch das, was die Vertriebenenverbände plötzlich so redeten. Als ich einmal mit Herbert Hupka, dem Präsidenten der Schlesischen Landsmannschaft, zusammentraf, habe ich ihm gesagt, dass er sehr viel Schaden anrichte. Ich habe mich für manches geschämt, was er gesagt hat.“
Diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Auch wenn die letzten Deutschen, die Hans-Dieter Rutsch zu Worte kommen lässt, nicht mehr leben werden – Schlesien kann Brücke sein zwischen West und Ost. Schlesien kann aber auch wieder Zankapfel werden. Rutschs Buch erzählt Geschichten, die bewahrenswert sind. Wegen der Menschen, denen sie widerfahren sind – und wegen uns. Bei uns – denen die schon zitierte „Gnade der späten Geburt“ zuteil wurde – liegt die Entscheidung über das künftige Schicksal dieser alten europäischen Kulturlandschaft. Deren Boden ist die Jahrhunderte über von genügend Blut getränkt worden… Ein berührendes Buch.
Dass sich sein letztes Kapitel mit dem Schicksal der „Wolfskinder“ im Kaliningrader Gebiet und in Litauen befasst, sei hier noch erwähnt. Das Adjektiv „schrecklich“ ist formal komparierbar, von seinem Bedeutungsgehalt her eher nicht. Hans-Dieter Rutsch berichtet von Kinderschicksalen, die schrecklicher nicht sein können. Dies hätte aber ein eigener Band werden können und sollen.

Hans-Dieter Rutsch: Die letzten Deutschen. Schicksale aus Schlesien und Ostpreußen, Rowohlt Verlag, Berlin 2012, 288 Seiten, 19,95 Euro