16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Das Leben als Traumbild

von Horst Jakob

Wer immer sich empfindungsfähig weiß, vermag Filme von Andrej Tarkowski unmöglich vergessen. „Iwans Kindheit“ etwa, „Andrej Rubljow“, „Der Spiegel“, „Solaris“ oder „Stalker“ – zu sehr brennen sich diese grandiosen Kunstwerke in die „Festplatten“ ihrer Betrachter ein und verstören sie gar – als dass dies für Menschenkenntnis und eigene Seele ohne Nachhaltigkeit bleiben könnte. Dass die Zahl der Filme Tarkowskis selbst bei kompletter Aufzählung übersichtlich bliebe, ist seinem frühen Tod geschuldet; nur 54-jährig starb Tarkowski 1986 nach einem Lungenkrebs in Paris. Das Werk aber, das er schuf, und dessen Kern wohl letztlich das Rätsel Mensch ist, hat ihm die Verehrung und Hochachtung nicht nur des Publikums und diverser Festivaljurys, sondern auch anderer Größen der Filmkunst oder Literatur eingebracht. Nahezu unstrittig ist ihm attestiert worden, einer der wichtigsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. „Lediglich“ sein sowjetisches Heimatland machte dem so Ideologiefernen Leben und Arbeit schwer. Obwohl oder auch weil sein Lehrer Michail Romm ihn 1962 hellsichtig als jemanden ankündigte, der etwas ungewöhnliches auf die Leinwand bringt, „etwas, das es auf unserer Leinwand bisher bei uns nicht gab“ behinderte und boykottierte die UdSSR seinen hoffnungsvollsten Filmemacher, wo es nur ging. Dabei spielten vor allem der langjährige Goskino-Vorsitzende Jermasch, bedauerlicherweise aber auch Sergej Bondartschuk, eine ebenso unglückselige wie bewusst praktizierte Rolle, so dass Tarkowski 1983 resigniert sein Heimatland verließ.
Einer seiner Bewunderer, Ingmar Bergmann, hat sein „Erlebnis Tarkowski“ 1986 so in Worte gefasst: „Die Entdeckung der ersten Tarkowski-Filme war für mich ein Wunder. Plötzlich stand ich vor der Tür zu einem Zimmer, für das ich bisher keinen Schlüssel hatte. Zu einem Zimmer, von dem ich nur träumen konnte, es einmal zu betreten, während er sich dort ganz leicht bewegt. Ich fühlte mich unterstützt und ermuntert: Irgendjemand konnte bereits ausdrücken, wovon zu sprechen ich immer geträumt hatte, aber nicht wusste, wie.
Tarkowski ist für mich der Größte, weil er dem Kino eine neue, besondere Sprache gegeben hat, die es ihm erlaubt, das Leben als Vision, als ein Traumbild zu erfassen.“ Alles in allem: Tarkowskis Filme, so ein Kritiker völlig zu Recht, sind ein „Gegenentwurf zum Hollywood-Groß-Kino“. Das mag Produzenten und Verleiher verzweifeln lassen – für den Bestand des Films als Kunst und nicht nur unterhaltendes fast food sind Filmemacher wie Tarkowski immer wieder ein Glücksfall.
Bergmanns Stimme ist eine aus einer Reihe, die ein ganzes Kapitel jenes opulenten Bandes aus dem Hause Schirmer/Mosel ausmacht, das dem großen Filmemacher nunmehr auf großartige Weise ein würdiges Denkmal setzt. Neben einem Essay von Hans-Joachim Schlegel fügen von Tarkowskis Sohn Andrej A. ausgewählte Auszüge aus kunsttheoretischen sowie biografischen Texten seines Vaters sowie beigefügte biografische Daten, eine Übersicht über weitere Arbeiten Tarkowskis für Film, Theater, Oper und Funk sowie eine ausgewählte Bibliografie das Bild eines ruhelosen Wahrheitssuchers.
Ganz und gar grandios ist jener Teil des großformatigen Bandes (24 x 30,5 cm), der Tarkowskis Filme illustriert. Darunter sind eben jene Momente, die sich beim Betrachter als unvergessliche Bilder festgesetzt haben; nahezu jedes einzelne ein visuelles Kunstwerk für sich. Keines muss sich erklären, wenn man den Film kennt und/oder die jeweils einleitenden und informativen Texte dazu gelesen hat. Diese Bilder sind es letztlich, die dieser Werkbiografie ihren suggestiven Charakter verleihen. Für Tarkowski-Freunde ist an diesem wunderbaren Buch einfach kein Vorbeikommen. Und wer seine Streifen nicht längst in der eigenen Filmothek besitzt, für den findet sich bei einschlägiger Internetsuche schnell Abhilfe.

Andrej Tarkovskij: Leben und Werk, Filme, Schriften, Stills & Polaroids, Schirmer/Mosel-Verlag, München 2012, 319 Seiten, 68,00 Euro