von Holger Politt, Warschau
Wer in Polen viel mit der Eisenbahn fährt, weiß sie zu schätzen. Die Zentrale Eisenbahnmagistrale, die Warschau mit dem Großraum Katowice verbindet, ist noch immer die schnellste Schienenverbindung des Landes. Gebaut wurde das Prestigeprojekt von 1971 bis 1977 – weit und breit ließ sich bei den Eisenbahnen im RGW kaum Besseres finden. Die Strecke war einer der Stützpfeiler der hochtrabenden Pläne von einem zweiten Japan. Der Mann, der mit dieser Vision das Land umkrempeln wollte, hieß Edward Gierek. Anfang Januar wäre er hundert Jahre alt geworden.
Die Linksdemokraten (SLD) nahmen diesen runden Jahrestag kurzfristig zum Anlass, für 2013 ein offizielles Edward-Gierek-Jahr zu fordern. Außerdem sollten verschiedenen Orts Straßen und Plätze nach dem Visionär aus den 1970er Jahren umbenannt werden. Mitgeteilt wurden diese Vorhaben der staunenden Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz, die mit dem Warschauer Zentralbahnhof gleich entsprechendes Ambiente zu bieten hatte. Der Bahnhof nahm 1975 den Betrieb auf und wurde wegen der unterirdischen, die Stadt querenden Streckenführung seinerzeit zu den modernsten Bahnhofslösungen Europas gezählt. Das oberirdische Bahnhofsgebäude ist nach wie vor eines der bekanntesten, wohl auch gelungensten Bauwerke in der Weichselstadt.
Die Idee zur Gierek-Ehrung brachte nicht der alte Haudegen Leszek Miller auf, vielmehr war es die junge Garde, die damit auf sich aufmerksam machen wollte. Allesamt bereits nach den Gierek-Jahren geboren, treibt diese noch jungen Leute vor allem der Ehrgeiz, möglichst bald an die entscheidenden Ruder der SLD heranzukommen. Zwar musste vor knapp zwei Jahren der bereits abservierte Leszek Miller noch einmal reaktiviert werden, um überhaupt Schiffbruch zu vermeiden, doch nun scheint dessen Zeit abzulaufen. Gegen den eloquenten Janusz Palikot, so der stille Vorwurf, habe er kaum noch etwas zu bieten, außer der Behauptung, er selbst sei der bessere, gar ein waschechter Sozialdemokrat.
Insofern brachte der überraschende Schritt mit der Gierek-Ehrung einmal die erhoffte Aufmerksamkeit in den Medien, denn noch immer funktioniert hierzulande der antikommunistische Pawlowsche Hund. Schulmeisterlich wurde die Öffentlichkeit nun drei Tage lang wieder einmal belehrt, welch Unglück die Zeit der Volksrepublik doch insgesamt gewesen sei, da könne auch Gierek, obwohl er nicht auf streikende Arbeiter schießen ließ, nicht ausgenommen werden. Andere, nuancierte Töne gab es wenige.
Zum anderen gab es ein nicht zu unterschätzendes Signal an die eigenen Reihen. Die sind, wie bei den meisten Nachfolgestrukturen staatssozialistischer Parteien in verschiedenen Ländern, auch hier nicht mehr die jüngsten. In den Jahren der großen SLD-Erfolge von 1993 bis 2001 sprach die neidische Konkurrenz gerne von einer eisernen Wählerklientel, die bei Wind und Wetter ohnehin das Kreuz immer an der entsprechenden Stelle mache. Angesichts schneller Erfolge schluckte diese ohne zu murren die Botschaft, mit der Aleksander Kwaśniewski 1995 Amtsinhaber Lech Wałęsa im Rennen um das Präsidentenamt schlug: Wir wählen die Zukunft. Erst spät fiel dann auf, dass damit auch der Deckel draufgelegt wurde auf das, was im Deutschen gerne und abkürzend als Geschichtsaufarbeitung beschrieben wird. Anders gesagt, die Zeit der Volksrepublik wurde zur leichten Beute für andere, die damals die große Zeit von Geschichtspolitik erst noch kommen sahen. Dass die Herrlichkeit der gewählten Zukunft indes nur bis 2005 reichen werde, konnte fast niemand unter den Linksdemokraten sich vorstellen.
Der Gierek-Coup der jungen Riege will nun keineswegs Kurskorrektur ankündigen, im Gegenteil. Es ist politisches Marketing, zielt ausschließlich auf künftiges Wählerverhalten. Da SLD und Palikot-Bewegung weitgehend im gleichen Wählerspektrum herumfischen, geht es um Eingemachtes, denn die Zukunft ist sehr viel bescheidener geworden. Und Palikot wirkt zukünftiger, was insbesondere bei den jüngeren Wählern den Ausschlag geben könnte. An das Thema Volksrepublik Polen aber wagt er sich nicht heran, wenn doch, müsste er unüberhörbare kritische Töne anschlagen, was er aus Rücksicht auf Wählerschichten aber geschickt vermeidet. Also wurde einfach Flagge gezeigt, auch wenn das Terrain längst und sicher in der Hand anderer sich befindet. Die Fahne strahlt in Richtung Palikot, beruhigt die eigenen Gemüter. Ernsthaftere Absichten etwa einer Landnahme oder gar verwegener Rückeroberung lagen nicht vor.
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