von Renate Hoffmann
Unter Ludovico Sforza, genannt „Il Moro“, am Hof zu Mailand, erlangt der Maler, Architekt, Ingenieur, Stadtplaner, Anatom, Philosoph, Flugbesessener etcetera, etcetera Leonardo da Vinci (1452-1519) den Rang eines „Herzoglichen Ingenieurs“. Unter Cesare Borgia in Florenz erhält er die Titulatur „Architekt und Generalingenieur“. Und König Franz I. von Frankreich befördert ihn zum „Ersten Maler, Architekten und Ingenieur des Königs“.
Für seinen ersten Gönner und Dienstherrn malt Leonardo dessen Geliebte Cecilia Gallerani, weltweit bewundert als „Dame mit dem Hermelin“. Im Auftrag des Borgia vermisst er die Stadt Imola Meter um Meter und zeichnet den ersten präzisen Stadtplan in Draufsicht (1502). Zu Erstaunen und Verwirrung aller Gäste lässt er vor dem französischen König einen mechanischen Löwen auftreten, der sich auf den Herrscher zu bewegt, die Brust öffnet und Franzen weiße Lilien (die Wappenblume der Könige von Frankreich) zu Füßen legt.
Leonardo da Vinci: „Der Maler bemühe sich, universell zu sein.“
Der gesundheitsbewusste Vegetarier ist Linkshänder und schreibt seine Pamphlete und Notizen oftmals in Spiegelschrift. Er malt langsam und mit Bedacht, denkt schnell und unkonventionell. Leonardo spricht toskanischen Dialekt. Es mangelt ihm kaum an Selbstgefühl. Generalbegabung: Unübertroffene Vorstellungskraft.
Dieser überragende Geist lockte mich vor einigen Jahren in die Toskana. Nach Vinci, seiner Geburtsstätte. Die Häuser des Städtchens scharen sich um ihre Burg, die den Hügel beherrscht. Den Ort beherrscht Leonardo. Er hat sein Restaurant, seine Pizzeria, Platz, Café. Die Luft atmet ihn. In der Casa-torre, der Burg, erhielt er ein Museum. Der Gang durch die Räume gleicht der Besichtigungstour einer modernen Technikausstellung. Das Jahrhunderte alte Gedankengut des Vielseitigen wird in Modellen vorgestellt. Daneben Leonardos vergleichende Skizzen. Es sind einmalige Funktionsbilder, in denen technische Abläufe, naturwissenschaftlicher Weitblick und ästhetischer Sinn einander durchdringen. Nirgendwo wird deutlicher, welche wichtige Rolle die Fantasie in der Wissenschaft spielt.
Den Flugapparaten gilt meine Aufmerksamkeit. Vom Vogelflug bis zum „Ornitotero“, der fliegenden Vogelmaschine, lässt sich die Entwicklungsarbeit nachvollziehen. Nach Leonardos Beschreibung soll der Landevorgang dem eines fallenden Blattes folgen: „Der Mensch wird sich nach rechts drehen, den rechten Arm anwinkeln und den linken ausstrecken; er wird sich nach links wenden und die Armstellung ins Gegenteil ändern.“ Hoffentlich fällt einem der Ablauf ein, bevor man fällt.
Der Künstler, dessen Aura die kleine Stadt erfüllt, kam nicht hier zur Welt. In der milden Nachmittagssonne des Novembertages wandere ich den Bergen zu. Olivengärten begleiten den Weg. Es ist Erntezeit. Besorgt, das gesuchte Haus nicht zu finden, frage ich nach Anchiano, nunmehr Ortsteil von Vinci. Der Mann lacht. „Ah, Casa natale di Leonardo!“ Er weist mir die Richtung und wünscht im Weitergehen “Buona sera, Signora.”
Aus Feldsteinen gefügt, steht es etwa erhöht neben der Straße. Nur wenige schmale Fenster erhellen drei Räume. Sie tragen keine Geschosse, ich blicke in den Dachstuhl. Das Haus erinnert in seiner schlichten Ausstattung zurückhaltend an den außerehelichen Sohn des für die Stadtverwaltung Florenz tätigen Notars Ser Piero und der Caterina, einem Mädchen aus Vinci.
Draußen im Garten sind auf einem Rondell, eingeordnet in eine Windrose, Leonardos Lebensstationen verzeichnet. Vinci bildet Ausgang und Mittelpunkt. Der letzte Aufenthalt, Amboise, liegt fernab im Nordwesten.
Es trieb ihn um, den Mann aus Vinci, der mit Ideen jonglierte wie mit Spielbällen; der als vorzüglicher Beobachter und Analytiker Kenntnisse zu Erkenntnissen knüpfte, und versuchte, den Geheimnissen der Natur auf die Schliche zu kommen. Ob er das Massiv des Monte Rosa bestieg (wahrscheinlich bis zu einer Höhe von 3000 Metern), oder im Hospital Santa Maria Nuova in Florenz anatomischen Studien nachging, stets geschah es auf der Suche nach dem tieferen Zusammenhang des großen Ganzen. Und es brachte ihm auch verwertbare Einsichten für mancherlei Projekte, in denen Kunst, Wissenschaft und Technik zusammenflossen.
Leonardo da Vinci: „Niemals wird uns eine Erfindung gelingen, die schöner und wirkungsvoller ist als die Schöpfungen der Natur.“
Die Windrose in Vinci zeigte viele Aufenthaltsorte des Malers an, den Kriegszüge und wechselnde Machtverhältnisse jagten: Florenz und Mailand, Venedig, Rom und Mantua, Imola, Vaprio d’Adda … Und Amboise, die fern liegende französische Stadt. Man vermutet, dass Leonardo mit seinem letzten generösen Mäzen Franz I. in Bologna bekannt wurde. Der junge König bot ihm an, in Amboise sein Gast zu sein. Fast ohne Verpflichtungen, in herrschaftlicher Unterkunft, und mit einer Jahresrente von 700 Ecu d’or. Andere Quellen sprechen gar von 1.000 Ecus d’or – ein fürstliches Salär. Nach längerem Zögern verlässt der Vierundsechzigjährige im Jahr 1516 Italien, in der Gewissheit, das Land nicht wieder zu sehen.
Im Schloss Clos Lucé empfangen ihn noble Verhältnisse. Welcher Unterschied zur bescheidenen Klause in Vinci. Der alte Landsitz auf der Anhöhe eines Parkes galt lange Zeit als Sommerresidenz der französischen Könige. Franz I. und seine Schwester Margarete von Navarra erlebten hier Scherz und Ernst ihrer Kinderjahre. Der neue Bewohner hieß nun Leonardo da Vinci. Das Geschwisterpaar verehrte den Meister.
Über eine Wendeltreppe erreiche ich die Galerie mit Ausblicken auf weitschweifende Wiesen, die zur Amasse, einem Nebenflüsschen der Loire, hinunter ziehen. Zur Einstimmung geht man an Äußerungen des Philosophen und Lebenserfahrenen Leonardo vorüber: „Wer wenig denkt, der irrt viel“; „Sorge dafür, deine Gesundheit zu erhalten, was dir um so besser gelingt, je mehr du dich vor den Ärzten hütest.“
Von seinem Wohn- und Schlafgemach aus konnte Leonardo zum Schloss Amboise, Franzens Residenz (etwa 400 Meter entfernt), hinüber schauen. – Das Himmelbett aus der Renaissance-Zeit, rotsamten und bequem, sei des Malers nächtliche und letzte Ruhestatt gewesen, heißt es. Daselbst verstarb er am 2. Mai 1519. Neben dem Bett hängt ein Gemälde, das den Tod Leonardos im Beisein von Franz I. zeigt. Traurig-schön, aber nicht zutreffend. Der König weilte an jenem Tag nicht in Amboise. Ein einfacher Kamin, italienische Kabinettschränke und Alltagsgegenstände betonen die Wohnlichkeit des Raumes.
Als der Maler im Chateau Clos Lucé Einzug hielt, brachte er drei Gemälde mit, die ihm am Herzen lagen.: Die „Heilige Anna Selbdritt“, „Johannes der Täufer“ und „Mona Lisa“. Kopien von ihnen sind in den Etagen zu sehen. Wieder stehe ich vor dem wissenden Lächeln der Dame aus Florenz, der Leonardo durch seine „Sfumato-Technik“ der weichen Konturen diese unbeschreibbare Ausstrahlung verlieh.
Im großen Gemach Margaretes von Navarra, der klugen, anmutigen, dichterisch begabten Frau, ertönt leise Musik. Intim, doch gleichzeitig festlich-offen wirkt der Saal. In der unteren Ebene des Schlosses ist die kleine Hauskapelle eingebaut. Das Rippengewölbe trägt einen azurblauen, mit Sternen übersäten Himmel. Da sind noch: Küche, barocker Salon – durch viele Fenster von Licht erfüllt und ehemaliger Arbeitsraum des Malers – und der Renaissance-Saal. Hier empfing Leonardo seine Gäste. Häufigster Besucher war wohl der König. Ihm stand das Chateau jederzeit offen. Er hatte sich ausbedungen, je nach Lust und Laune mit dem Meister zu plaudern. Und er machte regen Gebrauch davon.
Im Souterrain erwarten mich ähnliche Eindrücke wie im Burgmuseum von Vinci; erweitert durch Leonardos Kriegsgeräte. Es hält schwer, den Pazifisten, der er war, mit den Vernichtungsmaschinen in Einklang zu bringen. In fünf Kabinetten sind nachgebaute Modelle des Ingenieurs ausgestellt, ergänzt durch seine präzisen Zeichnungen und Denkmuster. Man staunt und staunt: Der Vorläufer des Automobils und ein Wagenheber; das System des Kugellagers, ein Kilometerzähler, Geräte zur Messung von Luftfeuchtigkeit und Windgeschwindigkeit; Hänge- und Drehbrücken; Universalschlüssel und ein Funktionsmodell zur Bewegungsumwandlung. Dazu viele Exponate aus Leonardos „Traum vom Fliegen“, den er ein Leben lang träumte. Im Untergeschoss vergisst man den Maler und in den oberen Stockwerken den Ingenieur, Wissenschaftler und Forscher.
Es ist ein warmer Sommertag. Er verführt zum Spaziergang durch den „Leonardo-Wissenspark“. Unter dem „Baum der Erkenntnis“, einer ausladenden Platane, höre ich den Aphorismen und Weisungen Leonardos zu. Großmodelle stehen am Wege; und ich stelle fest, dass Spielen zu den menschlichen Grundeigenschaften gehört. Man ist versucht, an allem zu drehen, zu schrauben, zu klopfen – die Konstruktionen in Gang zu setzen.
Leonardo da Vinci: „Die Bewegung ist die Ursache jeglichen Lebens.“
Klangsäulen und durchscheinende Projektionswände widerspiegeln Details aus dem Leben des gelehrten Mannes. Dazu gehört auch seine letzte bekannte Notiz, die er, vielleicht unterbrochen durch einen Ruf aus der Küche, auf ein Blatt mit Diagrammen schrieb: „etcetera. Denn die Suppe wird kalt.“
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