von Kai Agthe
Er war fraglos einer der bedeutendsten Literaturvermittler der Bundesrepublik, auch wenn ihm das nur selten gesagt und kaum gedankt wurde. 1947 hatte Hans Werner Richter die glänzende Idee, Schriftsteller zu Lesungen einzuladen, um eine neue deutsche Literatur zu fördern und talentierte Jungautoren zu entdecken. Die Gruppe 47 war keine klassische Dichtervereinigung, sondern eine lose Verbindung von Literaten. Dennoch war sie bald nach ihren ersten Tagungen eine Institution im westdeutschen Literaturbetrieb. Wer an den Treffen teilnahm, das entschied Richter autoritär. Schriftsteller, die mit einer Postkarte Richters zu einer von ihm moderierten Lesung eingeladen wurden, durften sich glücklich schätzen. Andererseits mussten Autoren, die auf dem „heißen Stuhl“ Platz nahmen, ein dickes Fell mitbringen. Denn auf Kritik aus dem Auditorium durften die Vorleser nichts erwidern, sondern mussten sie, gleich ob gerechtfertigt oder nicht, schweigsam über sich ergehen lassen.
Erst im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag Hans Werner Richters wurde der Fokus wieder stärker auf seine Person gelenkt. Im Umfeld des Jahrestages erschienen mehrere lange vergriffene Bücher des 1908 auf Usedom geborenen und 1993 in München gestorbenen Autors neu. So auch die „Geschichten aus Bansin“, in denen er auf höchst amüsante Weise aus der Lebensgeschichte seines Vaters und der Lebenswelt an der Ostsee nach 1900 plaudert. Aber auch Bücher wie „Ein Julitag“ und „Die Stunde der falschen Triumphe“, „Flucht nach Abanon“ und der autobiografisch geprägte Roman „Spuren im Sand“ verdienen die Lektüre.
Als ein Beitrag zum 20. Todestag, an den in diesem Jahr zu erinnern ist, kann die vorliegende Publikation betrachtet werden. Der Bonner Historiker Prof. Dominik Geppert edierte aus Richters Nachlass dessen Tagebücher der Jahre 1966 bis 1972. Bis zur Veröffentlichung des etwas uninspiriert „Mittendrin“ betitelten Bandes dürfte auch in Germanistikkreisen kaum jemand von der Existenz dieser höchst spannenden Aufzeichnungen gewusst haben.
Hans Werner Richters Tagebücher entpuppen sich, je länger man in ihnen liest, als ein Abschied auf Raten von seiner Gruppe 47. Entstanden sie doch in jenen politisch explosiven Jahren, in denen Richters Gründung nicht nur von konservativen und linksradikalen Kreisen in Westdeutschland, sondern auch von der DDR-Kulturpolitik attackiert wurde. Über Jahre bedenkt Richter, ob es nicht besser sei, einen Schlussstrich unter die Gruppe 47 zu ziehen. Am 1. Juli 1968 heißt es: „Und doch: einmal muss es zu Ende sein.“ Da lag das letzte Treffen bereits ein Jahr zurück. Zu einer 1968 in der ČSSR geplanten Tagung kam es nicht mehr.
Dass Richters Tagebücher erst posthum und mit einem Abstand von fast zwei Jahrzehnten erschienen, überrascht nicht. Denn es sind hier Aussagen über Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zu finden, die wenig schmeichelhaft sind. Das gilt auch und vor allem für Weggefährten wie Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass. Diesen nennt Richter einen „Scharlatan der Revolution“, jenen den „besorgten Hausvater der Sozialdemokratischen Partei“. Schon am 1. Oktober 1966 notiert Richter mit Blick auf seine nach öffentlicher Aufmerksamkeit gierenden Autorenkollegen: „Mein Gott, warum reden sie nur so viel.“
Für Richter kann gelten, was er im Tagebuch über Günther Weisenborn notiert: Er mag vielleicht kein Literat erster Größe gewesen sein, aber fraglos eine integere Persönlichkeit.
Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972, Verlag C. H. Beck, München 2012, 384 Seiten, 24,95 Euro
Schlagwörter: Gruppe 47, Hans Werner Richter, Kai Agthe