von Ulrike Steglich
Leo hat Post vom Amt mitgebracht. Genauer: von der Bundesagentur für Arbeit. Das Formular, das er unterschreiben soll, heißt: „Anmeldung zur Teilnahme an einer Maßnahme der vertieften Berufsorientierung nach § 48 SGB III bzw. der erweiterten Berufsorientierung nach § 48 i.V.m. § 130 SGB III und Erklärung zur Übermittlung von Daten an die Agentur für Arbeit“.
Leo soll darin seine persönlichen Daten angeben und außerdem Folgendes unterschreiben: „Hiermit erkläre ich mein Einverständnis, an der oben genannten, von der Bundesagentur für Arbeit (BA) geförderten Maßnahme der vertieften Berufsorientierung teilzunehmen. Mir ist bekannt, dass ich damit Leistungen der BA in Anspruch nehme und dass im Rahmen der Maßnahmeabwicklung meine oben genannten personenbezogenen Daten vom Träger an die Agentur für Arbeit zu Abrechnungszwecken weitergegeben werden …“
Liebe Güte. Jetzt ist der Sohn schon mitten in einer „Maßnahmeabwicklung“ der Bundesarbeitsagentur und noch dazu „Leistungsempfänger“. Dabei ist er erst zwölf und gerade aufs Gymnasium gekommen. Auf den Kopf gefallen ist er jedenfalls nicht. „Sieht ja aus wie eine Klageschrift“, sagt er trocken, als er seiner Mutter das Schreiben überreicht, das ihm sein Klassenlehrer mitgegeben hat. Im Vater tobt derweil ein mittlerer Orkan. „Ständig versuchen wir, den Kindern beizubringen, dass sie nichts unterschreiben sollen, was sie nicht verstehen. Und dann sollen sie so einen Müll unterschreiben!“
Bei genauerem Hinsehen ist die Sache ziemlich simpel. Das SPI (Sozialpädagogisches Institut) ist der „Maßnahmeträger“. Es hängt am öffentlichen Tropf, die Institution lebt vor allem von Mitteln der Bundesagentur für Arbeit. Damit die weiter fließen, muss man sich immer mal neue Projekte einfallen lassen. Zum Beispiel eine Art frühzeitiger Berufsberatung für Siebtklässler – man kann ja nicht früh genug anfangen mit der Maßnahmeabwicklung für potenzielle Leistungsempfänger.
„Naja“, beruhigt der Klassenlehrer. Er sei da auf so einer Veranstaltung gewesen, auf der das Projekt vorgestellt wurde. Es gehe darum, bei einem Projekttag „spielerisch“ die Begabungen der Kinder zu erkunden, um frühzeitig berufliche Orientierung zu finden. Und er habe das ganz toll gefunden. Und Eltern könnten vorab auch eine Informationsveranstaltung zum Projekttag besuchen.
Der Vater-Orkan legt noch zwei Windstärken zu: Ob er das richtig verstanden habe, dass für so einen Sch … noch ein Elternabend besucht werden solle?
Die Eltern sind jetzt gespannt. Bislang will Leo Archäologe oder Historiker werden, am besten beides. Aber vielleicht ermittelt das Amt, dass er doch eher Gefallen an der Leistungsempfängnis findet?
Wir sollten uns nicht so echauffieren, findet die Mutter, die in dieser Hinsicht DDR-abgehärteter ist. In der vierten Klasse musste sie als Zehnjährige einen Aufsatz über ihre Berufswünsche schreiben. „Was ich einmal werden will.“ Sie schrieb darüber, dass sie entweder Künstlerin oder Gerichtsmedizinerin werden wolle. Eltern und Lehrer waren entsetzt bei der Vorstellung, dass das zarte Mädchen irgendwann mit der Knochensäge in toten Körpern herumschneiden würde.
Sie hätten sich nicht so aufregen müssen. Die Mutter wurde keine Gerichtsmedizinerin, auch die künstlerische Laufbahn (Bühnenbild) war ziemlich kurz und wurde durch die Wende abrupt beendet. Seitdem operiert sie nur noch mit Sprache, Stift und Tastatur. Ihr Neffe hat die Schule abgebrochen und ist jetzt ein renommierter Jungschauspieler. Leos Vater hatte Japanologie und Politik studiert – und abgebrochen, weil Leos Mutter ihn in das Zeitungswesen zerrte. Nun ist er ein erfolgreicher Journalist.
Mal sehen, was das Amt so über Leo rausfindet. Hoffentlich bringen sie ihn nicht darauf, Germanist werden zu wollen, weil er Wesentliches so knapp auf den Punkt bringen kann. Vielleicht empfehlen sie ihm ein BWL-Studium, weil er in Mathe gut ist (obwohl das Versagen der Banker in der Finanzkrise nicht gerade für gute Mathe-Kenntnisse spricht). Vielleicht empfehlen sie ihm auch eine Leistungsempfänger-Laufbahn, weil das SPI weiterleben möchte und damit neue „Maßnahmen“ finanzieren kann – wer weiß das schon. Die „Maßnahme der vertieften Berufsorientierung nach § 48 SGB III bzw. der erweiterten Berufsorientierung nach § 48 i.V.m. § 130 SGB III“ wird es gewiss zeigen.
Und immerhin haben wir schon rausgekriegt, was „i.V.m.“ bedeutet. Womöglich sind wir hochbegabt.
Schlagwörter: Bundesagentur für Arbeit, Leistungsempfänger, SGB III, SPI, Ulrike Steglich