15. Jahrgang | Nummer 26 | 24. Dezember 2012

Atomwaffen: Gefahr von gestern?

von Lutz Unterseher

1139 verbot Papst Innozenz II. auf dem Zweiten Lateran-Konzil die „schreckliche“ Armbrust – bei Strafe der Exkommunikation. Diese Waffe sollte fürderhin nur noch gegen Heiden eingesetzt werden. Motiv dieser drastischen kirchlichen Maßnahme war letztlich die Sorge um die Stabilität der Heiligen Ordnung und damit die Angst vor dem Verfall der eigenen Autorität.
Die Armbrust mit ihrer Durchschlagskraft bedrohte nämlich den militäri­schen Wert gepanzerter Reiter – also den des Rittertums. Bekannt­lich waren damals die Ritter die privilegierten Waffenträger der von der Kirche abgeseg­neten gesell­schaftlichen Hierarchie.
Doch die Kräfte des Wandels, nämlich die Territorialfürsten und die durch Handel erstarkenden Städte, sahen durchaus nicht ein, warum sie auf die neue „egalisierende“ Technologie verzichten sollten. So erwies sich denn der päpstliche Versuch mittelalterlicher Rüstungs­begrenzung als erfolglos.
Die Armbrust wurde vom Heiligen Stuhl geächtet, das Giftgas und insbesondere die Kernwaffen, um die es hier gehen soll, entgingen aber jeglichem Bannfluch. Müssen wir daraus schließen, dass etwa die Atom­bombe in Rom nicht als Gefahr für die etablierte Ordnung gilt?
Das wäre wohl allzu billige Polemik. Denn bereits im 19. Jahrhundert war man im Vatikan ob der minimalen Chancen, durch Bannflüche irgendetwas erreichen zu können, offenbar so frustriert, dass dieser Brauch generell auf­gegeben wurde. Gleichwohl mahnt der Vatikan routinemäßig umfassende – also auch atomare – Abrüstung an, mit einem Nachdruck, der die Forderung nach Keuschheit vor der Ehe allerdings nicht wesentlich übertrifft.

Entsetzen

Als in den Wochen und Monaten nach dem Abwurf der Atombomben auf Japan, am 6. und 9. August 1945, immer klarer wurde, was sich da eigentlich ereignet hatte, ging das Entsetzen um die Welt. Und es schien ganz so, als würde die Menschheit sich mit dem unvergleichlichen Horror nie wirklich arrangieren können.
Schon bald jedoch wurde das namenlose Entsetzen zum heilsamen Schrecken verklärt: Jedenfalls unternahm dies die politische und militärische Führung der USA. Sie erklärte nämlich der Welt, dass nur die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki ein sofortiges Kriegsende hatte herbei­führen können – dass die über 100.000 Toten in den beiden Städten (gemeint sind die sofort getöteten Opfer)zu den vielen Hunderttausenden, in Beziehung zu setzen seien, die bei einer Landung auf den japanischen Hauptinseln an gefallenen Amerikanern zu erwarten gewesen wären.
Damit stellte sich der Abwurf der Bomben als humanitärer Akt höhe­rer Art dar, wobei signalisiert wurde, dass dieser Einsatz vor allem ameri­kanische Menschenleben geschützt hatte. Japanische galten damals als kaum achtenswert, wurden tendenziell als quantité négligeable betrachtet.

Realität

Die Sichtweise der US-amerikanischen Führung ist in die Schulbücher zahlreicher Nationen eingegangen. Viele Historiker hängen dieser Version immer noch an. Doch es gibt Zweifel an ihrer Seriosität, die hier kurz anzusprechen sind.
Bereits im Herbst 1944 hörte die Kaiserlich Japanische Marine auf, ein zu nennenswerten Operationen fähiges Gebilde zu sein. Damit gab es für Tokio keinen einheitlichen, kontrollierbaren Machtbereich mehr. Seine Großraumherrschaft war zusammengebrochen.
Im Frühjahr 1945 starben bei einer Luftoffensive der USA gegen die Zivilbevölkerung Japans erheblich mehr Menschen als durch die späteren Atombombenabwürfe. In diesem Kontext gab es erste japanische Versuche, die Möglichkeit eines Waffen­stillstandes zu erkunden. Sie wurden allerdings in Moskau und Washington ignoriert.
Als dann die Atombomben auf weitab gelegene Städte fielen, hatte die Führung in Tokio Schwierigkeiten zu begreifen, was da überhaupt ge­sche­hen war: offenbar etwas Ungewöhnliches, aber doch in den Opfer­zahlen nicht über das hinausgehend, was man schon hatte erleben müssen. Was wohl eher begriffen wurde, war die Tatsache, dass am 9. August 1945 starke mechanisierte und Luftlande-Truppen der Sowjetunion in die Mandschurei eindrangen und die dort stationierte Kwantung-Armee, das letzte Heerespotential Japans, in wenigen Tagen hinwegfegten
Vor diesem Hintergrund muss die These von der allein friedens­bringenden Funktion der Atomwaffen nicht unerheblich relativiert werden.
Das Bild wird vollständig, wenn der Blick auf die Motive der USA fällt: Mit dem Atombombeneinsatz sollten nicht nur eigene Opfer vermieden, son­dern es sollte zugleich durch ein möglichst baldiges Kriegsende zu amerikanischen Konditionen der Sowjetunion – als der neuen Konkurrentin um globale Macht – größerer Einfluss auf die künftige Entwicklung in Japan verwehrt werden. Zugleich wollte man der UdSSR damit zu verstehen geben, wer als die Weltmacht Num­mer 1 zu respektieren sei.
Aber auch ein Sekundärmotiv darf nicht unterschätzt werden. Etliche der amerikanischen Bombenbauer wollten – gleichsam aus Forscher­neugier – er­fahren, wie die Dinger beim tatsächlichen Einsatz gegen Großstädte wirkten. (Da drängt sich der Vergleich mit kleinen Jungs auf, die aus kindlicher Neugier Insekten quälen.)
Das Mittel der Apokalypse, die scheinbar endgültige Waffe, die sich nur als Friedensbringerin zu rechtfertigen schien, wurde also von Anfang an in einem durchaus schnöden, instrumentellen Kontext gesehen.

Gleichgewicht

Vier Jahre lang behielten die Vereinigten Staaten ihr nukleares Monopol. In dieser Zeit gab es etliche Konflikte mit dem sich um die Sowjetunion bildenden gegnerischen Block. Hätten die USA in diesem Zusammenhang mit der Bombe gedroht: niemand wäre in der Lage gewesen, auf dieser Ebene Paroli zu bieten.
Doch die Anlässe lagen in ihrem Kaliber weit unter dem, was den Einsatz der fürchterlichsten aller Waffen rechtfertigt hätte. Im Übrigen war das amerikanische Volk unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg konflikt­müde bis isola­tionistisch gepolt.
Dann wurde auch die UdSSR Nuklearmacht, und jene Ära begann, die manche mit „Gleichgewicht des Schreckens“ benennen – womit jener Me­chanismus bezeichnet ist, der für viele Historiker und noch mehr Journalisten im Rückblick eine relativ verlässliche Garantie für Stabilität, jedenfalls die Abwesenheit von Krieg, bot – bis dann am Ende eine der beteiligten Seiten die Segel strich, weil ihr die ökonomische Puste ausgegangen war. Damit wurde die Existenz atomarer Waffen um ein Übriges verklärt, das Entsetzen nochmals zum heilsamen Schrecken schöngeredet.
„Gleichgewicht des Schreckens“: Das bedeutete, dass keine der mit Kernwaffen gerüsteten Seiten der jeweils anderen einen Atomkrieg glaub­würdig anzudrohen vermochte, weil diese dann in gleicher Münze hätte heimzahlen können. Hierbei ging es um die strategische Ebene: die Möglichkeit oder Unmöglichkeit wechselseitiger Totalvernichtung. Doch war da noch ein weiterer Aspekt: Hätte eine Atommacht auf be­grenzte Pro­vokationen der anderen Seite, etwa die Einnahme eines territo­rialen Faust­pfandes durch konventionelle Truppen, glaubwürdig mit der Totalver­nichtung drohen können? Angesichts nuklearer Rüstung beider Parteien?

Militarisierung

Um dem Dilemma zu entrinnen, dass sich mit Kanonen schlecht auf des anderen Spatzen schießen lässt, wenn der auch schwere Kaliber besitzt, wurde die gezielte Entwicklung militärischer Optionen unterhalb der strategischen Ebene betrieben. Dies bedeutete zweierlei: Zum einen eine Stärkung der konventionellen Rüstungskomponente und zum anderen eine „Militari­sierung“ der Atomwaffen. Was bedeutet diese „Militarisierung“?
Gemeint ist damit, dass auf allen Ebenen unterhalb der strategischen – also gerade auch für den taktischen Gebrauch auf dem Gefechtsfeld – Atom­waffen entwickelt wurden: immer kompakter, zuverlässiger, reaktionsschneller, zielsicherer, in der Wirkung dosierbarer und zahlreicher.
Zwar hatten bei dieser Entwicklung die Vereinigten Staaten meist die Nase vorn, doch zog die Sowjetunion in aller Regel recht schnell nach. Und die NATO machte gegenüber dem Warschauer Pakt zwar auch bei der konventionellen Rüstung sehr substantielle Fortschritte, doch blieb es im westlichen Bündnis bis zum Ende des traditionellen Ost-West-Konflik­tes offizielle, allerdings wahrheitswidrige Lesart, dass der Osten dem Westen auf dieser Ebene bedeutend überlegen sei. Das hieß im Kontext des damaligen Denkens in Gleichgewichts­ka­tegorien, dass die – angeblichen – Defizite an konventionellem Potential durch Atomwaffen zu kompensieren wären. Im Falle des Falles zum Zweck trivialer Kriegführung und nicht als letzte Rück­versicherung gegenüber einer Bedrohung durch strategi­sche Waffen.
Dieses Konstrukt, nämlich die behauptete konventionelle Schwäche und deren atomare Kompensation, lag ganz im politischen Interesse der USA. Es stärkte deren Dominanz in der NATO: Zum einen konnte man so die lieben Alliierten immer wieder an den Ohren ziehen und zu mehr Bemühungen auf konventionellem Gebiet drängen, zum anderen war man Monopolist gerade bei jenen Waffen, welche die militärische Parität mit dem östlichen Block letztlich ge­währleisten sollten.

Instabilität

Parität? Ganz so ernst wurde das offiziell verkündete Gleichgewichts­dogma denn doch nicht genommen. Gerade in den USA wurde versucht, weniger durch die quantitative Ausweitung des Arsenals als vielmehr durch qualitative Verbesserungen militärische Vorteile und tenden­zielle Überlegenheit herauszuwirtschaften. Dies galt zunächst für die taktische und die intermediäre – also die operative – Ebene, dann aber auch für die strategische.  Im Ansatz ging es darum, den Opponenten gegebenenfalls so gezielt und begrenzt zu treffen (Stichwort „Ent­hauptungsschlag“), dass er gleichsam gelähmt sein, sich jedenfalls nicht in der Lage sehen würde, mit einer atomaren Antwort so zu eskalieren, dass dann am Ende die wechselseitige Totalvernichtung gestan­den hätte.
Die Begriffe Eskalationskontrolle und Eskalationsdominanz mach­ten in der NATO die Runde. Würde man diese durch mili­tärisch-technische Innovationen erreichen, wäre, so schien es manchen, der atomare Krieg zu kalkulierbaren Verlusten führbar. Verteidigt wurde dies mit dem Argument, dass nur tatsächliche Krieg­führungsfähigkeit Abschre­ck­ung bewahren und dadurch sicherheits­politische Stabilität garantieren könne.
Doch der Gedanke, mit diesem Ansatz Eskalationsprozesse verläss­lich kontrollieren, vielleicht sogar den Krieg auf ein bestimmtes Terri­torium begrenzen zu können, war idiotisch – machte er doch die Rechnung ohne den Wirt, den potentiellen Kontrahenten, denn die UdSSR war durchaus in der Lage, durch eigene Rüstungsentwicklungen derartige Kalküle zu durchkreuzen.
Ein General der Bundeswehr sagte mir einmal, er hätte die ganze Chose nie wirklich verstanden. Die Kritiker der sich zuspitzenden Konkurrenz um Krieg­führungs­fähigkeit, die übrigens in einem veritablen Wettrüsten resultierte, sahen statt gestärkter Abschreckung eine gefährliche Krisenanfällig­keit der atomar geprägten militärischen Strukturen. Folgende Überlegung, der die Gedankenwelt der damaligen Militärs zugrunde lag, lehrte einen wirklich das Fürchten: Da der optimale Einsatz vor allem der taktischen und operativen Atomwaffen für den Sieg in einem von vielen wieder zunehmend als „normal“ imaginierten Krieg entscheidend sein würde, müsste man die des Gegners möglichst früh, präemptiv oder gar präventiv, zer­stören. Dies umso mehr, als der Opponent logischerweise ebenfalls versuchen würde, entsprechend mit den Waffen seines Gegenübers zu verfahren.
Das frühzeitige Handeln könnte mit konventionellen, aber auch atomaren Mitteln geschehen – Letzteres, um die Vernichtung todsicher zu machen. Auf jeden Fall würden für solche Aktionen gute Voraussetzungen bestehen – bildeten doch die Atomwaffenträger für den taktisch-operativen Gebrauch in ihren wenig geschützten Stellungen und Basen am Boden einladende Ziele (ganz im Gegensatz zu den gut verbunkerten oder seestationierten strategischen Trägern).
Eine solche – in hohem Maße zeitkritische – Struktur sei, so meinten die Kritiker, extrem krisenanfällig. Und Krisen zwischen den beiden großen Blöcken gab es damals genug. Sollte sich ein politischer Konflikt zuspitzen, so die Befürchtung, könnten krisentypische Kommunikationsstörungen zu der Fehlwahrnehmung führen, dass eine Aggression bevorstünde, mit dem Ergebnis eines unbegründeten „zuvor­kommenden“ Schlages und der dadurch ausgelösten Eskalation.
Wir erinnern uns an die Kuba-Krise im Herbst 1962, die uns fast an den Rand des großen Krieges brachte und heute noch schaudern lässt. Doch damals konnte nach einer sowjetischen Raketenstationierung, die von der Führung der USA als Provokation empfunden wurde, sachlich kommuniziert werden, um das Problem zu bereinigen. So war es aber nicht bei der Krise, die von der NATO-Übung Able Archer im Herbst 1983 ausgelöst wurde und die als die weitaus gefährlichste des Kalten Krieges gilt. Eine Kette von durch Bedrohungsängste induzierten Wahrnehmungsfehlern ließ in Moskau den Eindruck entstehen, ein Enthauptungsschlag stünde unmittelbar bevor, worauf – ohne, dass mit der Gegenseite noch hätte kommuniziert werden können – die Prozedur für einen massiven Präemptionsschlag anlief. Nur weil ein jüngerer sowjetischer Offizier die Täuschung erkannte und entsprechend handelte, hat die Welt, wie wir sie kennen, überlebt.
Die Gefahr gefährlichster Destabilisierung schien also gewaltig. Henry Shue, der amerikanische Moralphilosoph und Strategieforscher, kam zu dem Schluss: Die Menschheit hat nicht wegen des Gleichgewichts des Schreckens überlebt, sondern es war „Idiotenglück“ (dumb luck).

Friedensbewegung

An die Krisenanfälligkeit der Atomrüstung knüpften auch etliche Vertreter der Friedensbewegung an. In Mittel- und West­europa gab es diese Bewegung etwa in Gestalt der Ostermärsche schon seit den 1950er Jahren. Abgesehen von einigem Zulauf in Sachen Atombewaffnung der deutschen Bundeswehr dümpelte man aber eher vor sich hin, um dann nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 einen Auf­schwung zu erleben: Da waren zunächst einmal die Krisenanfälligkeit, aber auch die schiere Zahl und Spreng­kraft der Atomwaffen, die aus dem Wettrüsten resultierten. Dies gab zwar Anlass zur Sorge, war freilich allein noch nicht genug, um Menschen auf die Straße zu bringen.
Hinzu kam, dass im Zuge der so genannten Nachrüstung, einer durchaus irreführenden Bezeichnung, Atomwaffen mit erklärter Krieg­führungsfunktion in leicht zu bekämpfenden Stellungen stationiert werden sollten (Stichwort „einladende Ziele“). Dadurch wurde der lokale Protest genährt, welcher der ganzen Bewegung erst den richtigen Kick gab. Hinzu kam als Grundmoti­vation wohl auch noch ein gewisses Un­be­hagen an einer sich rasch modernisierenden, kälter werdenden Gesellschaft.
Die Friedensbewegung verstand sich als eine Aktion der Massen, was Spontaneität und – wenn überhaupt – nur schwach entwickelte Strukturen implizierte. Letzteres war übrigens mit dafür ausschlaggebend, dass diese Bewegung, als Massenphänomen, das Jahr 1984 nicht überlebte. Die eigentlichen Erfolge auf dem Gebiet nuklearer Abrüstung gab es erst Jahre später, und sie waren vor allem den Initiativen Gorba­tschows zu ver­danken. Der agierte vor dem Hintergrund sozia­listischer Ressourcen­knapp­heit, aber zunehmend auch von der Einsicht gelei­tet, dass krisenanfällige Militärstruk­turen Kriegsgefahren mit sich bringen.
Die Friedensbewegung, die sich als Vertretung breiter Massen ver­stand, war nicht wirklich in der Bevölkerung verankert. Umfragen zeigten, dass im Jahre 1979 Kriegsgefahr, respektive die Notwendigkeit der Abrüstung auf Platz zehn der allgemeinen Problemliste in Westdeutschland lagen. Zwei Jahre später erreichte die Abrüstung den Platz neun. Mehr war nicht drin.
Was hat diese Bewegung überhaupt erreicht, außer ein paar gute Herzen innerlich zu erfüllen? Vermutlich hat sie dazu beigetragen, Sen­si­bilität und Gewissen von Politikern zu wecken. Außerdem, das ist wohl wichtiger, wurde versucht, die Bombe zu „enttriviali­sieren“ (wenn es die­ses Wort überhaupt gibt). Es klang zwar bisweilen ein wenig aufgesetzt, wenn „Friedensbewegte“ in den Mega-Toten eines Kern­waffen­krieges nahezu schwelgten. Doch irgendwie kam der ursprüngliche Schrecken zurück.

Abrüstung

Vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens in Europa, dessen Ge­fährlich­keit die Gemüter in den 1980er Jahren ganz besonders bewegte, kam es 1987 zum INF(Intermediate Nuclear Forces)-Abkommen, das landgestützte Flugkörper der USA und der UdSSR zwischen 500 km und 5.500 km Reichweite verbot. Anschließend wurden die atomaren Waffen kürzerer Distanz, soweit bodengebunden, aus Mitteleuropa entfernt.
Zur atomaren Abrüstung auf globalstrategischer Ebene kam es aber erst ab Anfang der 1990er Jahre, nachdem sich der Konflikt der Blöcke gleichsam erledigt hatte, womit die „ganz große“ Nuklearrüstung sich nicht mehr legitimieren ließ.
Am Anfang stand START I (Strategic Arms Reduction Treaty): ein Abkommen, mit dem sich die USA und Russland verpflichteten, jeweils auf 6.000 strategische Sprengköpfe und 1.600 Träger­mittel herunter zu rüsten. (Vorher hatte es auf beiden Seiten jeweils über 10.000 solcher Sprengköpfe gegeben.) Einige Jahre später folgte START II, welches nie umgesetzt wurde. Russland stieg nämlich aus, weil die USA, unter Präsident Bush Junior, den ABM-Vertrag gekündigt hatten, jenes Abkommen aus den 1970er Jahren, mit dem ein destabilisierender Wettlauf bei der Raketen­abwehr ausgeschlossen wer­den sollte. Dann folgte das Vertragsregime von SORT (Strategic Offen­sive Reduction Treaty), das eine Obergrenze von 1.700 bis 2.200 einsatz­bereiten Sprengköpfen zog und bis 2012 laufen sollte. Doch schon 2011 ist NEW START in Kraft treten, das von Präsident Obama energisch betrie­ben wurde und das die Zahl der stationierten strate­gischen Sprengköpfe auf 1.550 sowie die der Trägermittel auf 800 reduzieren soll. Der Vertrag läuft bis 2021, seine Ziele sind aber bereits weitgehend realisiert.
Der Weg strategischer Abrüstung war nicht einfach. Es gab viele Steine des Anstoßes, die aber alle aus dem Weg geräumt werden konnten. Der Prozess scheint also ins Rollen gekommen zu sein. Könnte es nicht einfach so weitergehen? Bis zu einer weltweiten Null-Lösung? Zumal man sich neuer­dings auch anschickt, das vielschichtige Problem der so ge­nannten substrate­gischen Atomwaffen (Beispiel: Kernwaffen für taktische Kampfflugzeuge) zu verhandeln? Zweifel sind aber leider angebracht. Woran könnte die Idee einer weltweiten atomaren Abrüstung scheitern? Warum würden relevante Akteure sehr wahrscheinlich nicht mitmachen?

Statusgarantie

Da ist zunächst einmal die Gruppe der fünf Altbesitzer: USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China. Deren Mitglieder sind selten oder gar nicht mehr mit Konfliktszenarien konfrontiert, in denen sie Atom­waffen zum Eigenschutz oder dem von Verbündeten benötigen. Für die Altbesitzer bedeuten Atomwaffen vor allem eine Status­garantie. Die besteht  heute nicht zuletzt darin, dass sie die fünf ständi­gen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind, überdies ausgestattet mit Veto-Recht. Typisch die Reaktion Frankreichs: Man findet Obamas Vision einer Welt ohne Atomwaffen nicht sehr charmant.
Und da ist die Gruppe der später Gekommenen – trotz des Nichtver­breitungs­vertrages von 1970 kamen fünf weitere Atomwaffen­staaten hin­zu, wovon einer, nämlich Südafrika, wieder ausschied.
Diese Gruppe sieht mit dem Atomwaffenbesitz nicht nur Status­gewinn verknüpft, der ihren Mitgliedern allerdings sehr wichtig erscheint, sondern sie stellt diesen Besitz auch in einen dezi­diert sicherheitspolitischen Zusammen­hang. Man denke hier an die Konfrontation zwischen Pakistan und Indien oder auch an die Lage des isolierten, sich bedrängt fühlenden Israel!
Es ist bemerkenswert: Bisher waren von allen Atomwaffenstaaten über­haupt nur zwei systematisch in den Abrüstungsprozess einbezogen – nämlich die Sowjetunion, heute  Russland und die USA. Und auch im Hinblick auf diese beiden erscheint ein Herunterrüsten auf Null illusorisch.
Beispiel: Putins Russland. Es hat bislang der Welt wenig zu bieten. Hängt der globale Einfluss dieses Staates denn nicht ganz wesentlich von seinem Status als Kernwaffenbesitzer ab? In Moskau dürfte man das jedenfalls so empfinden.
In den übrigen Besitzerstaaten wird an atomare Abrüstung nicht einmal gedacht: Zu lieb und wert ist einem die atomare Errungenschaft geworden. Soll sich doch die Welt daran gewöhnen!

Groteske

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Angst vor dem möglichen Einsatz von Atomwaffen zweifellos geschwunden. Auch für die Spitzen der neuen Kern­waffenstaaten scheint die Perspektive atomarer Kriegführung wenig rele­vant. Ihnen geht es eher um eine Rückversicherung gegenüber fundamen­taler Bedrohung und, wie gesagt, den internationalen Status.
Gleichwohl sollte nicht unterschlagen werden, dass in den USA Anfang des vergangenen Jahrzehnts von Experten aus dem Dunstkreis des Pentagon öffent­lich diskutiert worden ist, ob ein Atomwaffeneinsatz nicht doch einmal wieder geboten wäre. Nach dem Motto: In der neuen Welt der Unordnung sollten alle erfahren, „wo der Hammer hängt.“ Vorgeschlagen wurde, nuklear armierte, neuartige Penetrations­körper gegen die Höhlen von Tora Bora zu verwenden, um Osama Bin Laden und seine Leute mit größerer Sicherheit töten zu können, als es nichtatomare Wirkmittel versprachen. Entsprechend sollte gegen die Bunker unter den angeblich so vielen Palästen Hussein Saddams vorgegangen werden.
Wegen der damit anvisierten Grenzüberschreitung gab es zum Teil harsche Kritik aus der interessierten Öffentlichkeit. Doch rasch ging man wieder zur Tagesordnung über. Niemand glaubte, dass ein solcher Wahnsinn wahr werden würde. Ich allerdings blieb beunruhigt. Warum? Es schien mir nämlich eine beklemmende Ähnlichkeit mit der Konstellation von 1945 zu geben: Ein Gegner, dem man das Menschliche abgesprochen hatte – eine Waffe, die man unbedingt mal ausprobieren wollte – und die Absicht, der Welt eine einschüchternde Botschaft zu senden.

Gefahr

Viele wollen davon nichts wissen oder haben es verdrängt: Es gibt immer noch deutlich über 10.000 atomare Gefechtsköpfe auf der Welt. Diese Größenordnung ergibt sich, wenn alle Sprengkörper aller Besitzer­staaten, die strategischen und substrategischen, die einsatzbereiten und die in der Reserve befindlichen, zusammengezählt werden. Diese Sprengköpfe wurden von Menschen gemacht und werden von Menschen gehütet. Katastrophale Unfälle sind deswegen alles andere als auszuschließen. Einige der Beinahe-Unfälle aus dem Kalten Krieg sind mittler­weile publik geworden. Und die Dunkel­ziffer war sicherlich hoch.
Eine weitere Befürchtung ist eher systematischer Natur. Denkbar wäre, dass sich eine Art Kalter Krieg, ein Wettbewerb um die besten atomaren Kriegführungsoptionen, zwischen Paaren von Kontrahenten wiederholt: etwa zwischen Indien und Pakistan, Indien und China oder den USA und China, und dass sich dann, wie zuvor in der alten Konfrontation der Blöcke, gefährliche Stabilitätsrisiken ergeben.
Bisher ist eine solche Gefahr noch nicht akut. Zu einem entsprechenden Wett­rüsten gehören jeweils zwei. Und es hat den Anschein, dass vor allem die Führung der Volksrepublik China mit ihrem Atom­potential vorsichtig operiert, sich nicht auf eine dynamische Konkur­renz einlassen will und eher in Kategorien einer Mindestab­schreckung zur Neutralisierung nuklearer Provokation denkt. Dennoch: Die Trivialisierung der Bombe, die Normalisierung ihrer Exis­tenz, bedeutet keineswegs ein Ende der Gefahr.