15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Schwierigkeiten mit dem Rechtsstaat

von Bernhard Romeike

Helmut Müller-Enbergs ist Mitarbeiter des Amtes für die Verwaltung und Benutzung der überkommenen Stasi-Unterlagen. Hier beforscht er derzeit schwerpunktmäßig das Themenfeld West-Spionage. In einer neueren Abhandlung stellte er dar, ein Bonner Ehepaar – beide waren Mitarbeiter der SPD – sei unter den Inoffiziellen Mitarbeitern der DDR-Staatssicherheit als „IM Bob“ und „IM Petra“ geführt worden. Sie seien die „drittwichtigste Quelle“ der Stasi in der SPD gewesen. Das Ehepaar bestreitet, jemals wissentlich und willentlich für die DDR-Staatssicherheit gearbeitet zu haben, und hat Klage vor dem Landgericht Hamburg eingereicht. Das Amt für Stasi-Akten sieht die Chance eines Erfolgs von Müller-Enbergs in diesem Rechtsstreit als gering an und gewährt ihm keinen Rechtsschutz.
So weit, so gut. Bis hier hin wäre das ein ganz normaler Rechtsvorgang. Dass eine Behörde unnütze Gerichtskosten vermeiden will, wenn ihre Anwälte Erfolgsaussichten in einem Rechtsstreit nicht sehen, sollte im Prinzip der Sparsamkeit bei der Verwendung öffentlicher Mittel begründet liegen. Da es hier um eine Arbeit geht, die den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhebt, die wiederum durch das Grundrecht auf Freiheit von Wissenschaft und Forschung (Artikel 5 Grundgesetz) gedeckt ist, hat das Amt seinem Mitarbeiter Müller-Enbergs nicht einfach verboten, seine Behauptung weiter zu verbreiten, sondern hat ihm den behördlichen Rechtsschutz versagt, was praktisch heißt: er muss der Unterlassungsklage folgen oder kann weiter herumprozessieren, aber bitte auf eigene Kosten nach Feierabend.
Bis zu dieser Stelle ist es immer noch ein normaler juristischer und Verwaltungsvorgang. Nun aber betritt der antikommunistische Wutbürger als Gestalt des gesunden Volksempfindens die Bühne. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung veröffentlichte am 4. November 2012 auf ihrer ersten Seite die Mitteilung: „Solidarität mit deutschem Forscher. Wissenschaftler rügen Stasi-Unterlagen-Behörde“. Nun ist im Rechtsverkehr die Rüge in aller Regel eine Disziplinarmaßnahme, mittels derer ein Vorgesetzter das Fehlverhaltenen eines Untergebenen – der definiert ist etwa beim Militär als jemand, der Befehle des Vorgesetzten auszuführen hat – ahndet, etwa in Form einer Abmahnung mit der Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen. Oder es ist eine Disziplinarmaßnahme im Beamtenrecht in Gestalt der schriftlichen Missbilligung eines Regelverstoßes durch den Dienstherrn. Indem also die Frankfurter Allgemeine sich dazu versteht, eine Rüge gegen das oben genannte Amt auszusprechen, begibt sie sich in die Rolle des Vorgesetzten. In dieser „rügt“ sie die Arbeit des Amtes, weil es den Vorgaben zur antikommunistischen Denunziation nicht zur Genüge nachkommt. Nun tut die Zeitung das nicht direkt, sondern teilt mit, es gäbe eine Erklärung der Solidarität von sechzehn „renommierten Wissenschaftlern“ aus unterschiedlichen Ländern, die ihr im Wortlaut vorliege, und zitiert aus dieser: „Die Beschreibung und Analyse von historischen Quellen müssen möglich sein, wenn eine wissenschaftliche Aufarbeitung eines so schwierigen Themas wie der Spionage überhaupt gewollt ist.“ Und weiter: „Wir begrüßen es daher, dass Dr. Müller-Enbergs sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht einschüchtern lässt, auch wenn ihm die Stasi-Unterlagen-Behörde keinen Rechtsschutz gewährt.“ In diesem Sinne zieht sich die Frankfurter Allgemeine gewiss darauf zurück, nicht selbst als rügender Vorgesetzter in Erscheinung zu treten, sondern ist die Schriftform, in der die namentlich nicht genannten „renommierten Wissenschaftler“ in diese Rolle des Vorgesetzten eingerückt werden.
Nun geht es in der Sache ja nicht um die „Beschreibung und Analyse von historischen Quellen“. Hier würde es ausreichen mitzuteilen, dass es nach Lage der Stasi-Akten ein Ehepaar in Bonn gab, dessen beide Partner in der SPD-Zentrale angestellt waren, von der Staatssicherheit der DDR als IM geführt wurden und unter vergleichendem Gesichtspunkt heute als die „drittwichtigste Quelle“ anzusehen seien. Ob das Herr und Frau Müller, Meier oder Lehmann waren, ist in der Sache historisch uninteressant. Müller-Enbergs will aber zugleich der große Enttarner sein, der konkrete, zudem noch lebende Personen mit dieser Sache in Verbindung bringt. Nun würde das zuständige Gericht den öffentlichen Gebrauch dieser Unterstellung wohl kaum untersagen, wenn nicht Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt würden. Der eigentliche Adressat der Rüge ist damit nicht das Amt, das den Rechtsschutz für den Denunzianten nicht gewährt, sondern die deutsche Gerichtsbarkeit, die den Denunzierten Rechtsschutz gibt.
An dieser Stelle ist es angebracht, auf die Frage des Rechtsstaates zu verweisen. Er zeichnet sich dadurch aus, dass der einzelne Mensch nicht dem Gutdünken des Staates unterworfen ist, sondern unterstellt nach Immanuel Kant den Staat als „Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetze“. Das bedeutet nicht nur, dass alle Staatstätigkeit an Verfassung, Recht und Gesetz gebunden ist, sondern auch, dass der Staat den Schutz der Rechte des Einzelnen zu gewährleisten hat. Wenn also Müller-Enbergs in seinem Tun die Rechte von Bürgern dieses Landes verletzt, sind die Gerichte verpflichtet, deren Rechte zu schützen. Zugleich bedeutet die Versagung des Rechtsschutzes für Müller-Enbergs durch das Amt, bei dem er angestellt ist, dass sein Rechtsbruch nicht im Auftrage des Amtes erfolgt, sondern im Sinne einer Selbstbeauftragung.
Indem also die Frankfurter Allgemeine Zeitung dies „rügt“, rügt sie den Rechtsstaat in Deutschland. Nun ist ja ohnehin die Konstruktion der Stasi-Akten-Behörde keine rechtsstaatliche: Wer auf der Grundlage dort herbeigeschaffter Akten öffentlich bezichtigt wird, ist gezwungen, seine Unschuld zu beweisen. Das heißt, das Grundprinzip der Unschuldsvermutung, das ein Kernbestand des modernen Rechtsstaates ist, wurde bereits bei der Einrichtung der Behörde durch das einer Schuldvermutung ersetzt: Nicht die Anklage muss die Schuld beweisen, sondern der Beschuldigte seine Unschuld. Das aber ist nicht das Rechtsverständnis im Sinne des Rechtsstaates nach Immanuel Kant, sondern das der Heiligen Inquisition. Nun denunzieren Müller-Enbergs, seine Solidarisierer und die Frankfurter Allgemeine Zeitung sogar diesen Gang zum Gericht. Das bedeutet aber in der Konsequenz, ihnen ist der Rechtsstaat im Wege. Und das ist schon ein starkes Stück!