von Hans-Dieter Rutsch
Bis auf einen kleinen Zipfel zwischen Görlitz und Weißwasser liegt Schlesien in Polen, ist für Deutsche ein Land des Präteritums, gebunden an die Begriffe „verlorene Heimat“ oder „Flucht und Vertreibung“. Die Gegenwart interessiert nur Insider. Wo Schlesien eigentlich liegt, wissen nur wenige. Aus den deutschen Schulbüchern ist der fünfhundert Kilometer lange Landstrich in Südpolen (etwa so groß wie Baden-Württemberg) längst und gründlich vertrieben. Die Lehrplanmacher in den Kultusministerien haben ganze Arbeit geleistet: Schlesien ist fast vergessen. In den deutschen Nachrichtensendungen des Jahres 2012 fand Schlesien zwar Erwähnung als Austragungsstätte der Fußball –Europameisterschaft, aber ansonsten scheint das Land an der Oder, die ja erst kurz vor der Mündung deutsch-polnischer Grenzfluss wird, in den deutschen Nachrichten nicht zu existieren. Ganz Polen erfährt auch nicht viel mehr Aufmerksamkeit, es sei denn in Warschau werden Äußerungen von Erika Steinbach mit denen der Bundesregierung in Berlin verwechselt. Da muss sich schon eine Katastrophe wie die von Smolensk ereignen, eine ganze Regierung mit einem Flugzeug verunglücken, ehe Nachrichten aus Polen den deutschen Medienmachern zu einem „Aufmacher“ taugen. Selbst der „Polizeiruf 110“ hat es inzwischen schwer, mit Geschichten über Menschenhandel und organisierte Kriminalität zwischen Deutschland und Polen zum Fernseh-Quotenrenner zu werden. Für das Leben an Rhein und Main hat dieser Teil unserer Realität zuwenig Relevanz. Aber dort wird Quote gemacht.
Auch das Interesse an der polnischen Sprache ist in Deutschland nicht bemerkenswert. Die im Ruhrgebiet lebenden deutschen Spätaussiedler vermeiden gerne und sorgfältig den Akzent ihrer polnischen Sozialisierung. Sie erleben zu oft, abfällig „Polen“ genannt zu werden. Bilingualer Unterricht (etwa Mathematik in polnischer Sprache) ist nur in der Grenzregion an Oder und Neiße Herzensangelegenheit ausgewählter Schulen (zum Beispiel in Cottbus oder Görlitz). Ansonsten gilt für die wachsende Zahl der preiswert nach Polen in den Urlaub und zur Kur reisenden Deutschen das Motto: „Die werden ja dort wohl ein bisschen Deutsch können – oder?“
Und doch ist vieles im Umbruch. In keinem Jahr wie in dem zurückliegenden bin ich öfter angesprochen worden, weil ich mich angeblich in Schlesien auskenne. Vor allem jüngere Leser oder Fernsehzuschauer haben vermehrt das Bedürfnis, mir mitzuteilen, dass sie auch eine Oma oder eine Mutter in der Familie hätten, die aus Schlesien stamme. Zwanzig Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ setzt eine Besinnung auf die Vorgeschichte des Heute ein, die es so noch nicht gab: die unpolitische Suche nach den eigenen und deutschen Wurzeln in Polen. Vergeblich versuchen Medien darin den revanchistischen Blickwinkel oder die Artikulation von Besitzansprüchen zu entdecken. Kenntnis über die Herkunft ist längst wichtiger geworden als Besitz. Es gibt einen echten Brieftourismus. Enkel und Urenkel fahren in die Städte und Häuser, in denen ihre Vorfahren einst lebten und den Nussbaum im Garten beschrieben und den unvergleichlichen Geschmack der Äpfel. Die Erben dieser Briefe schauen nach, ob der postalisch beschriebene Wunderbaum noch zu finden ist oder das Wehr im kleinen Fluss am Eingang der Stadt noch das Wasser staut und darin ein Wasserrad klappert.
Es gibt in Schlesien eine wachsende Hilfsbereitschaft und Geduld der heute polnischen Bewohner, den Deutschen bei der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren behilflich zu sein. Der Grund ist simpel: Diese Polen fühlen sich längst selbst als echte Schlesier und sehen die Spuren der deutschen Vorfahren als einen Teil ihrer eigenen Identität. Sie sind schließlich in Schlesien geboren. Und ihre Väter auch. Regierungskreise in Warschau beäugen diese schlesischen Wandlungen mit Gänsehaut. Inzwischen kann man sie sogar statistisch belegen und nachlesen, dass es zwei Drittel aller heute in Schlesien lebenden Polen wichtiger ist, Schlesier zu sein als ein Pole. „Jestem ślązakiem!“ – wie oft habe ich den Ausspruch „Ich bin Schlesier!“ in Interviews gehört. Das Wort „schlesisch“ ist ein Attribut nationaler Identität. Wer es nicht glauben will: Kurz vor Wrocław mehren sich die in polnischer Sprache an die Autobahnbrücken gesprayten Sprüche: „Es lebe Schlesien“. Gemeint ist eine berühmte Fußballmannschaft. Und so ist es mit vielem. Schlesische Wurst und schlesisches Brot gibt es, schlesisches Bier und schlesisches Mineralwasser.
Wer schon einmal etwas von schlesischem Streuselkuchen gehört hat, der weiß, hier ist von einer Delikatesse die Rede. Angeblich schmeckt Streuselkuchen nirgendwo so gut wie früher wie in Schlesien. Längst backen ihn die Polen so wie einst die Deutschen. Bei Dreharbeiten für einen Film über die Schlösser im „Hirschberger Tal“ befragte ich Elisabeth von Küster in Schloss Lomnitz, woher die Polen das Rezept hätten. Die Familie von Küster lebt wieder in Schlesien und betreibt dort im alten Schloss der Familie ein Hotel mit einer schlesischen Küche. Die Hotelchefin ist sich sicher, dass die Polen das Kuchenbacken nach 1945 nicht von den Deutschen gelernt haben. Die Deutschen waren ja weg, vertrieben. Also kann es nur, sagte die perfekt polnisch sprechende Deutsche, deren Kinder polnische Schulen besuchen, an der Luft liegen. Wenn es Berliner Luft gibt, dann gibt es auch schlesische Luft. Die gehört einfach zum Streuselkuchen dazu. Die bäckt man in ihn ein. Das sei das eigentliche Geheimnis.
Aber noch mehr ist im Umbruch in Schlesien. Es ist die Heimat des „Opel Astra“ geworden, der im legendären Gleiwitz zusammengeschraubt wird. 2015, wenn GM die Lichter im Bochumer Opelstandort endgültig ausschaltet, wird Gleiwitz für die deutsche Wirtschaft ein wichtiger Standort sein. Aber wer weiß das schon? „Henkel“ ist längst in Oberschlesien ansässig und stellt in Racibórz/Ratibor Persil nach höchsten Umwelt- und Energiestandards her.
Und die Deutschen? Gibt es sie noch? Laut polnischer Statistik leben noch 160 000 Deutsche in Schlesien. Das entspricht einem Anteil von etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Doch der Anteil ist höher. Nach und nach gerät bei den letzten Deutschen in Schlesien die Herkunft in Vergessenheit. Die Realität ist weit weniger geprägt von Demütigung und Ausgrenzung als vor zwanzig Jahren. Die deutsche Minderheit fand politische Anerkennung nach KSZE Standard, ist in den Parlamenten mit eigenen Abgeordneten vertreten, auch im Warschauer Sejm. Und doch ist das nur ein Teil der Wahrheit. Im Sommer hielt ich mich zu Dreharbeiten im Kloster der Franziskaner auf dem Annaberg bei Opole auf. Für die Oberschlesier ist das ein Pilgerort wie etwa die „Schwarze Madonna“ von Częstochowa/Tschenstochau. Der Guardian (gewählter Vorsteher eines Franziskanerkonvents) kommt mit einem herzlichen „Guten Tag“ im Kreuzgang entgegen. Ich fragte vorsichtig nach, ob er Deutscher oder Pole sei. Schlesier natürlich, antwortet der Chef der Klosterbrüder und klopft sich auf die Brust. Die deutsche Sprache, erfahre ich später, habe er von seinem Großvater übernommen. Der aber sei Deutscher gewesen. Diesen deutsch-polnischen Zusammenhang habe noch keine Statistik erfasst, fügt der Franziskaner herzhaft lachend hinzu. In Schlesien ist eben vieles anders geworden.
Hans-Dieter Rutsch ist Dokumentarfilmproduzent in Potsdam. Soeben ist sein Buch „Die letzten Deutschen. Schicksale aus Schlesien und Ostpreußen“ bei Rowohlt Berlin (288 S., 19,95 Euro) erschienen.
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