15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Bemerkungen

Manchmal ist der Rechtsstaat …

… ja auf dem rechten Auge blind, aber wenn er dann mal aufwacht! Sieben Staatsanwälte, so ist zu hören, werden auffahren im Prozess gegen Zschäpe. Nachdem die Verfassungsorgane und die Geheimdienste auf zweifelhafte Art gewirkt haben, so dass genug Raum blieb für die Vermutung, dass der eine oder andere Mitarbeiter nicht ganz frei von klammheimlicher Sympathie gewesen sein könnte oder dass bei den Ermittlungen zumindest unverantwortlich schlampig gearbeitet worden ist, zeigt der Staat nun seine geballte Kraft. Der Beklagten wird ein Pflichtverteidiger zugeordnet, in Zahlen: 1 Pflichtverteidiger. Der Antrag des Verteidigers, einen zweiten Anwalt als Pflichtverteidiger hinzuzuziehen, wurde vom Gericht abgelehnt. Das streichelt die wunde Volksseele: Das Luder hat es nicht anders verdient. Das Luder hat es vielleicht wirklich nicht anders verdient, aber sollen wir eines solchen Luders wegen unsere Rechtsstaatlichkeit außer Kraft setzen? Es ist das absolut falsche Signal. Rechtsstaatlichkeit verträgt auch nicht den Anschein einer Schauprozessmentalität. Sieben Staatsanwälte gegen einen Pflichtverteidiger ist ein unfaires Kräfteverhältnis. Sympathisanten der rechten Szene werden die Prozesse gegen die RAF heranziehen und sagen, dass die linken Terroristen fairer verteidigt worden seien, und sie werden dies propagandistisch nutzen. Das Gericht aber gibt Anlass, es für befangen zu halten. Schließlich wurden nicht sechs weitere Pflichtverteidiger verlangt, um schon optisch ein Gleichgewicht herzustellen, sondern nur ein weiterer. Aber nicht nur das Gericht hat eine zweifelhafte Entscheidung getroffen, auch die Staatsanwaltschaft hätte reagieren und auf fünf von sieben Anwälten verzichten können, um den Anschein eines Schauprozesses zu vermeiden. So wird der Prozess zu einer Farce, wird zu einer Alibi-Veranstaltung degradiert.

Friedrich Guhtbrodt

Fragestellungen

Jüngst zitierte ein bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin ausführlich aus einem jüngst erschienenen Buch des nämlichen Magazins: „Mitten in dieser unübersichtlichen Krise, die nun schon mehr als fünf Jahre dauert, hat Helmut Schmidt sich mit der Frage beschäftigt, wer ,fast die ganze Welt in die Scheiße geritten hat’. Je länger man Antworten sucht, desto beunruhigender werden die Fragen, die sich aus den Antworten ergeben: Kann es sein, dass wir keine Krise erleben, sondern eine Verwandlung unserer Wirtschaftsordnung, die uns wie eine unendliche Krise vorkommt, auf deren Ende wir aber vergebens hoffen? Kann es sein, dass wir darauf warten, dass sich die Welt wieder unserer Weltanschauung fügt, es aber schlauer wäre, wir würden unsere Weltanschauung der Welt anpassen? Kann es sein, dass Finanzmärkte nie wieder zu Dienern der Warenmärkte werden? Kann es sein, dass Staaten die Finanzmärkte nie mehr unter Kontrolle bekommen? Kann es sein, dass westliche Staaten nicht mehr zu entschulden sind, weil Demokratien nicht mit Geld umgehen können? Und kann es sein, dass Helmut Schmidt sich sagen müsste: Auch ich habe die Welt in die Scheiße geritten?“ Denn Schmidt immerhin „setzte als Finanzminister in den siebziger Jahren die Schuldenspirale in Gang und befeuerte in Deutschland die Illusion, Staaten könnten sich verschulden zum Segen aller“.
Damit waren zunächst einmal keine falschen Fragen gestellt. Dann wurden ein paar Wahrheiten aufgelistet: „,Der Markt’ ist kein Treffen von Sachverständigen, er ist nicht die letzte Instanz der kollektiven Vernunft, er ist eine Orgie der Unvernunft, der Willkür, der Verschwendung, des Egoismus. ,Die Demokratie’ ist keine Veranstaltung von Staatsbürgern, kein Fest des Altruismus und der Weitsicht, sie ist der Versuch, verschiedene Interessen möglichst friedlich zu Entscheidungen zu bündeln. Markt und Demokratie sind zusammen das, was gern ,das System’ genannt wird. Das System hat Banker und Politiker getrieben und gelockt, die Welt in die Scheiße zu reiten – so könnte man argumentieren, wenn sie nicht auch das System wären. Und wir könnten es wegfegen, wenn wir ein besseres hätten. So bleibt nur der unverhüllte Blick auf das System […].“
Der fiel in dem ausführlichen Zitat hernach sogleich „auf die drei großen Probleme im finanzgetriebenen, demokratisch verfassten Kapitalismus“: „Wie kann, erstens, eine hochverschuldete Wirtschaft wachsen, wenn ein großer Teil der Nachfrage in der Vergangenheit auf den Krediten basierte, die nun abgebaut werden sollen? Das zweite große Problem des modernen Kapitalismus: Wie sollen die entfesselten Finanzmärkte wieder eingefangen werden, wie sollen die G-20-Staaten gemeinsame Regeln finden für Großbanken, die ihre Geldgeber und Gläubiger sind, und für Märkte, die diese Staaten über die Zinsen abstrafen und belohnen? Wie viel Freiheit brauchen Finanzmärkte, um der globalen Weltwirtschaft als Schmiermittel zu dienen, welche Grenzen brauchen sie, damit Banken, Schattenbanken und Hedgefonds nicht zum Systemrisiko werden? Das dritte Problem: Wie […] verschaffen [die Regierenden] den Bürgern wieder Vorrang vor den Gläubigern, wie funktioniert Demokratie in hochverschuldeten Staaten? Wie können Politiker regieren, ohne die Staaten weiter zu verschulden, wie können sie Staaten entschulden?
So waren weitere und wieder keine falschen Fragen gestellt. Ob darauf allerdings überhaupt Antworten erfolgen und schon gar ebenfalls keine falschen, das verschwieg das ausführliche Zitat, das sich damit als Marketing outete: Wer weiterlesen will, der muss das Buch* kaufen.

Alfons Markuske

* – „Billionenpoker – Wie Banken und Staaten die Welt mit Geld überschwemmen und uns arm machen“, herausgegeben von Ullrich Fichtner und Cordt Schnibben, SPIEGEL-Buch bei DVA, München 2012, 304 Seiten; 19,99 Euro.

Kurze Notiz zu Sachsen-Anhalt

Durch Sachsen-Anhalt reist es sich am besten mit Robert von Lucius. Der wirklich rasende Reporter befährt dieses Bindestrichland, das für viele Ortsfremde immer noch terra incognita oder „deutsches Sibirien“ ist, seit sechs Jahren im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dass er dabei nicht nur im Magdeburger Regierungsviertel und vielleicht auch noch in Halle oder Dessau-Roßlau unterwegs ist, hat er bereits in seinen zahlreichen Berichten bewiesen. Von Lucius wählte in den vergangenen Jahren auch und gerade die abgelegenen Ortschaften im Land, um dort ausgemachte Befindlichkeiten einzufangen, die mehr über Sachsen-Anhalt und seine Bewohner verraten als ein schnöder Lexikoneintrag.
Aber seine nun in Buchform erschienenen Streifzüge durch Sachsen-Anhalt sind alles andere als eine bloße Zusammenstellung von FAZ-Reportagen, die dem Politikteil der Zeitung entnommen worden sind. Von Lucius hielt auch außerhalb des politischen Geschehens die Augen offen, saß im Magdeburger Café Central unter Grünautonomen ebenso wie beim Quedlinburger Pastor, mit dem er über den Kirchchor plauderte. Er erinnert an den über achtzig Jahre alten Brocken-Benno, der mehr als 6.000 Mal den höchsten Berg im Land bestieg, genauso wie an den Hallenser Nachwuchsautor Bernhard Spring.
Insgesamt gelingt von Lucius, was ich bisher noch nirgendwo anders gelesen habe: Er wandert leichtfüßig und äußerst unterhaltsam den schmalen Grad zwischen den Klischees über dieses Land entlang, ohne ins Straucheln zu geraten. Natürlich, zwischen Harz und Elbe hob Kaiser Otto I. sein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation aus der Taufe, die (auch baulich manifestierte) historische Blütezeit Sachsen-Anhalts liegt im Mittelalter. Und ja, das Armenhaus Deutschlands ist heute zumindest lokal ein Hort des grassierenden Rechtsradikalismus. Beides zu verschweigen wäre falsch. Aber von Lucius zeigt ein wesentlich vielschichtigeres Bild, flaniert vom ältesten Fingerabdruck der Menschheit über die Streitigkeiten zwischen Welfenhaus und Blankenburg um alte Adelsbesitze bis zur Magdeburger Band Tokio Hotel. Er betrachtet den größten Truppenübungsplatz in der Altmark genauso wie das Stück Holland im Oranienburger Schloss. Dabei gelingt es ihm immer wieder, Tradition und Aktualität auf einen Nenner zu bringen, etwa wenn er anlässlich der Verlegung des Polizeirufs von Halle nach Magdeburg die regionale kriminalliterarische Kultur, aber auch den nicht weniger ausgeprägten Konkurrenzkampf der beiden Großstädte im Land darstellt.
Ein unbedingtes Muss für alle, die ganz nah am Puls eines Landes sein wollen, das oft zu Unrecht hintan gestellt wird.

Thomas Zimmermann

Robert von Lucius: „Verdichtet und steinreich. Streifzüge durch Sachsen-Anhalt“, Mitteldeutscher Verlag, 2012, 160 Seiten., 9,95 Euro

Nietzsche, Wagner und der neue Mensch…

Gleich rechts neben dem Köpenicker Hauptmann, im ersten Mietshaus neben dem Rathaus durch die Eingangstür – dann steigen Sie tapfer in den 3. Stock und gehen in die Wohnung linker Hand, und Sie stehen mitten in einem der bemerkenswertesten freien Theaterprojektsäle Berlins. Hier spielt das Schlossplatztheater, hier ist die Junge Oper Berlin zugange. Seit gut 18 Jahren gibt es sie schon, die tolle Truppe um Birgit Grimm. Der Theatersaal fasst knapp 44 Plätze, die Bühne ist klein – aber das Repertoire desto beachtlicher. Am 16. November griff man tollkühn zum Mount Everest der Oper,  Wagners „Ring“. Keine Angst, aus den 16 Stunden des Originales wurden keine 90 Minuten und vorsichtigerweise sagen die Köpenicker „unter Benutzung Richard Wagners“. Aber wie die das machen, das ist sehens- und hörenswert! Ihr Werk nennt sich „Ecce homo – Herr N. erwacht aus dem Koma“. Sie tippen richtig, es geht um Nietzsche. Aber eigentlich geht es um den Fortschrittswahn, der momentan auch Teile der Berliner Wissenschaftslandschaft heftig schüttelt. Sie werden den Weg weit raus bis an das Ufer der Dahme nicht bereuen…

WB

Schlossplatztheater, Alt-Köpenick 31, 12557 Berlin; bis 22. Dezember, freitags und samstags 20.00 Uhr

Geschwätz von gestern

Hauke Janssen hat in Spiegel-online Zitate von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble zusammengestellt, in denen Deutschlands rigorose Haltung in Sachen Eurokrise sinnfälligen Ausdruck gefunden haben: „Hilfe steht nicht auf der Tagesordnung“ / „Eine Verlängerung der jetzigen Rettungsschirme wird es mit Deutschland nicht geben“ / „Der europäische Rettungsschirm hat eine Obergrenze von 440 Milliarden Euro – auf Deutschland entfallen 211 Milliarden. Und das war es. Schluss“ / „Eine Transferunion wird es mit mir nicht geben“ / “Einen  Austritt Griechenlands wird es nicht geben“.
Und Janssen hat nachgezeichnet, was aus diesen ultimativen Positionen geworden ist. Sein Fazit: „Ob Merkel und Schäuble seit Anfang 2010 in Sachen Euro-Krise wiederholt die Unwahrheit gesagt haben oder ob sie es einfach nicht besser wussten, bleibt dahingestellt. Ebenso die Frage, was aus Sicht der Wählers hier eigentlich das Bedenklichere wäre: dass Politiker einer Partei, die das ‚C‘ im Namen führt, fortgesetzt lügen (und seien es Notlügen) – oder dass unsere besten Politiker in Sachen Euro so naiv sind, dass sie glaubten, was sie sagten.“
Janssens Urteil ist folgerichtig: „Die Aussagen der Bundeskanzlerin und ihres Finanzministers in Sachen Euro-Krise sind über die Jahre immer wieder völlig falsch. Note: eine klare 6.“

Helge Jürgs

Nachbarschaftsstreit der Einsiedler

Auch, wenn das Neubrandenburger Filmfestival „dokumentART“ eine Neugründung der Nachwendezeit ist und damals seinen internationalen Anspruch begründete, knüpft es doch an das Vorgänger-Festival, das 1978 ins Leben gerufene Nationale Dokumentarfilmfestival der DDR an. Ein Kontinuum ist die Vergabe des „Findlings“-Preises der Filmklubbewegung, der vor 30 Jahren als Trostpreis erfunden wurde, um Filme zu ehren, die eigentlich gut waren, aber aus kulturpolitischen Gründen nicht von der Hauptjury ausgezeichnet werden sollten. Inzwischen ist das anders geworden. Der Interessenverband Filmkommunikation lobt den Preis für einen Film aus, mit dem die angeschlossenen Spielstätten gut arbeiten können. In diesem Jahr erhielt „Pustelnicy“ (Die Eremiten) des jungen Polen Kacper Czubak den Findling. Er erzählt vom skurrilen Nachbarschaftsstreit zweier Männer, die als Einsiedler leben wollen, wobei der eine, der ehemalige Mönch Grzegorz, dem anderen, dem naiven Maler Marian (der vor drei Jahrzehnten zum Aussteiger wurde, um der Partei zu entgehen) offenbar „zu dicht auf die Pelle rückt“. Der Film erhielt auch den Preis der Neubrandenburger Studentenjury. Die Stettiner Studenten (das Festival fand zum 6. Mal zeitgleich auch im polnischen Szczecin statt) waren politisch aufgeschlossener und zeichneten „Grandmothers“ der Britin Afarin Eghbal aus, einen mit vielen Trickebenen angereicherten poetischen Film über die „Mütter des Plaza del Mayo“, die seit dreißig Jahren nach Spuren ihrer während der argentinischen Militärdiktatur verschleppten Kinder suchen. Noch heute können die Frauen, die inzwischen Großmütter sind (oder sein könnten), so manches Schicksal aufklären.
Die internationale Hauptjury des Festivals hatte es nicht leicht, denn das Wettbewerbsprogramm war in diesem Jahrgang in vielerlei Hinsicht gut. Dass sie den Hauptpreis allerdings an den überlangen, thematisch läppischen und optisch verfehlten polnischen Streifen „Argentinische Lektion“ (Argentinska Lekcja) vergab, löste hinter den Kulissen Unmut aus. Andere Entscheidungen waren aber unbestritten. Der inzwischen 73jährige polnische Altmeister Marcel Lozinski erhielt für seinen bewegenden Interviewfilm „Tonia und ihre Kinder“ (Tonia i jej dzieci) zwei Preise. Er erzählt von einer polnisch-jüdischen Kommunistin, die erst vor den Nazis fliehen musste, um dann in Volkspolen für Jahre ins Gefängnis geworfen zu werden, weil sie den angeblichen Spion Noel Field gekannt hatte. Die betagten Kinder erfahren erstmals Details aus ihrem Martyrium.
Auch der Brasilianer Sergio Oksman wurde doppelt ausgezeichnet. In „A Story For the Modlins“ (Eine Geschichte für die Modlins) erfindet er anhand von Bildern und Gegenständen aus dem Nachlass einer Künstlerfamilie Motive aus deren im Grunde durchschnittlichen Leben.
Drei Filme des Wettbewerbs erzählten vom heutigen Alltag in Afghanistan. Es wurden Straßenkehrer beobachtet – oft Bauern, die im Krieg ihre Gehöfte verloren hatten, und denen nichts anderes geblieben ist, und der Kampf von Fuhrwerks- und Autobesitzern in einer völlig überlasteten Kabuler Straße wurde zum Sinnbild eines „Afghanistan im Kleinen“. Den zweiten Hauptpreis konnte Regisseur Wahid Nazir für seinen Film „Der Postbote“ entgegennehmen, der von einem Kriegsveteranen erzählt, der schwer zustellbare Sendungen in Kabul nach detektivischer Arbeit an den Mann bringt. Nach einem Behördenkampf hatte Nazir doch noch ein Visum erhalten und genoss die Herbsttage in Neubrandenburg, wie die meisten Teilnehmer dieser 21. dokumentART.

Frank Burkhard

Kalender, Kalender …

Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Ende August bereits die ersten Weihnachtsstollen in den Supermärkten aufkreuzen und in den Regalen das Sortiment an Lebkuchen und Pfeffernüssen wächst. Klimaanlagen retten die schokoladigen Hohlkörper vor dem Schmelzen. Und auf wundersame Weise scheint dieses Treiben jedes Jahr früher zu passieren.
Dieser hochsommerliche Weihnachtsstart ist jedoch nichts gegen die Kalenderflut, die schon im Frühjahr heranschwappt. Im März sind auf der Leipziger Buchmesse die ersten Wandkalender für das nächste Jahr zu bestaunen. Wenig später tauchen sie im Buchhandel auf. Wer dann im August oder später ein Buchgeschäft betritt, sieht vor lauter Kalendern keine Bücher mehr.
Am Eingang empfangen uns die großformatigen Kunstkalender. Da stolpern wir über die Werke von Spitzweg, Picasso, Feininger oder Hundertwasser. Haben wir diese Gemäldeparade abgenommen, verlangen die Fotokalender unsere Aufmerksamkeit. Als Urlaubs- und Familien-Knipser wissen wir zwar, dass die Welt voller Motive steckt. Doch muss man die unbedingt alle in Kalenderform unter die Leute bringen? Was wird da nicht alles abgelichtet: Landschaften (wenn möglich im Panoramaformat), historische Lokomotiven, Leuchttürme, Bäume, Segelyachten, Wolkenkratzer … und natürlich die Zwickauer Rennpappe.
Besonders beliebt sind Garten- und Blumenkalender – von der exotischen Flamingoblume bis zum biederen Stiefmütterchen kann man sich alles an die Wand hängen. Und für Raucherhaushalte gibt es den duftenden Rosenkalender. Noch erdrückender ist das Angebot bei Tierkalendern. Egal ob man daheim Goldfische oder Meerschweinchen beherbergt, es findet sich stets der passende Kalender. Und erst die Katzen- und Hundekalender – für jede Rasse gibt es scheinbar einen Extra-Vierbeinerkalender.
Nach den Haustierkalendern endlich die Kinderkalender (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt). Doch Pittiplatsch, Sandmännchen und der kleine Maulwurf versöhnen mich. Ärger überkommt mich allerdings beim Rentnerkalender mit großer Schrift und viel Platz für die Ärztetermine. Als ich dann noch den Klokalender mit dem „Unterhaltsamen für lange Sitzungen“ entdecke, ergreife ich die Flucht – vorbei an Angel-, Mond-, Bastel- und Küchenkalendern, vorbei an Daniela Katzenberger und Bayern München, vorbei an den Simpsons und den Beatles … an Gartenzwergen und Teddybären …
Am Ende des Kalender-Spießrutenlaufs verlasse ich schließlich mit einem halben Dutzend Kalendern das Geschäft. Ein bisschen viel für eine Drei-Raum-Wohnung. Zu allem Überfluss flattern in den nächsten Tagen nochmals eine Handvoll Kalender ins Haus: Autowerkstatt, Versicherungsvertreter, Energieversorger, Friseur … sie alle entdecken plötzlich ihr Kalenderherz für mich. Ich ertrinke in der Kalenderflut und werde mich deshalb ihrer – mit Schleifchen versehen – zu Weihnachten entledigen…

Manfred Orlick