15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Zwischenspiel – Tucholsky in Rheinsberg

von Werner Liersch

Tucholsky kam nicht wegen Frédéric nach Rheinsberg, aber ohne Frédéric wäre er nicht gekommen. Hätte das heitere Schloss am See gefehlt, hätte er sich etwas anderes gesucht. Ein tiefer Verehrer Preußens war er ja nicht gerade. Gefahren wäre er allerdings auf jeden Fall. Er hatte eine Verlobte, Kitty Frankfurter, und eine Geliebte, mit der er allein sein wollte. 1912 hieß seine Geliebte Else Weil und er war ein Jurastudent in Berlin, der schon etwas geschrieben hatte, aber noch nichts, das aus dem Namen Tucholsky den Namen Tucholsky machte, wie es nach dem Rheinsberg-Besuch passierte. Da schrieb er nämlich Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte und dieses Bilderbuch ging so ziemlich durch die ganze Presse und fand reißenden Absatz. So charmant, wie Wölfchen und Claire im Bilderbuch, war noch kein Paar im Buch ins Bett gegangen. Im Leben sicher. Wölfchen schaut nachts aus dem Hotelzimmerfenster und schaut auf den Rheinsberger Obelisken, und das Laub der Bäume rauscht und Wölfchen denkt: Warum reagieren wir darauf wie auf etwas Schönes
[…] Es ist doch nur ein durch Schallwellen fortgepflanztes Geräusch, und Claire seufzt im halbleeren Bett: Is niemand in mein klein Bettchen, und soll aber jemand dasein, und Klein Clärchen is ganz allein. Warum soll es mit Kurt und Else nicht ähnlich gewesen sein? So groß ist die dichterische Freiheit gar nicht. Unsere berechtigte Neugier, ob die Dichter wirklich erlebt haben, was sie uns zu lesen geben, befriedigen die anderen Teile des Buches besser, denn es enthält auch noch Ansichten von Rheinsberg wie philosophische Anschauungen des Autors. So kann man sich auch heute noch die von der Tourismusindustrie nicht gern gehörte Frage des Besuches stellen: War es eine Schönheit diese Landschaft?, die Tucholsky zurückhaltend beantwortet, aber so denn auch wieder, dass sich eine Reise lohnt: der Marktplatz schattig und still, das Schloss weiß, violett funkeln die Fensterscheiben, der zweite Friedrich nicht überall wie in Sanssouci hinter jeder Statue, der See die Uferlinien unendlich feingeschwungen, die hellblaue Fläche glänzt matt […] Sehssu mein Affgen, das is nun deine Heimat, sagt Claire und am Ende der drei Tage zelebriert sie im Boot liegend die Philosophie von Rheinsberg: … das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen!
Der Berliner Verleger Axel Juncker wies erst das Manuskript ab, dann gab er Tucholsky einen miserablen Vertrag und machte selbst mit dem von Kurt Szafranski illustrierten Buch ein Bombengeschäft. Tucholsky musste sich mit dem so genannten ideellen Gewinn trösten, aber in der Literatur und in Berlin ist er nun wer. Franz Kafka begegnet ihm in Berlin und trägt in sein Tagebuch als charakteristisch für den jungen Berliner ein: Angst vor der Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an älteren Berlinern seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig nichts davon. 1921 guckt sich Tucholsky das Buch wieder an und meint, weil aber die Zeit läuft, würde sich, was zwischen den Zeilen eines Buches ausgedrückt ist, niemals länger als fünfzig Jahre halten.
Achtundsechzig Jahre nach Erscheinen des Bilderbuches richten sich die Werktätigen des VEB Kernkraftwerk Rheinsberg 1980 eine Tucholsky-Ausstellung in ihrem Kulturhaus ein. Wohl weil man in der DDR trainiert ist, zwischen den Zeilen zu lesen. 1988 beabsichtigt sogar der Staat, eine Tucholsky-Gedenkstätte im Schloss einzurichten. Eine gewisse retrospektive Betrachtung kennt den bösen Zweck: Vereinnahmung. Die Vereinnahmung von Rheinsberg begann 1956 Fritz J. Raddatz in der DDR. Raddatz eröffnete 1956 mit Rheinsberg als erstem Band die Ausgabe der Ausgewählten Werke Kurt Tucholskys im Berliner Verlag Volk und Welt. Raddatz war damals Lektor im Unternehmen.
Der Staat DDR tritt vor der Realisierung des Vorhabens im Jahr 1989 von der Bühne ab. Die Zeit geht weiter und Tucholsky bleibt. Die Gedenkstätte kommt mit Unterstützung des neu gegründeten Landes Brandenburg zustande. Denn Tucholsky gehen die Leser und die Zwischenzeilenleser nicht aus.

Als Leseprobe entnommen dem höchst empfehlenswerten Buch – Werner Liersch: Dichterland Brandenburg. Literarische Entdeckungen zwischen Havel und Oder, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2012, 263 Seiten, 19,95 Euro