15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Im Narzissmus-Spiegel

von Hajo Jasper

Manche Einband-Ideen von Editoren folgen dem simplen Muster, auf irgendeine optische – welche auch immer – Weise Aufmerksamkeit zu erzielen, manchmal auch um den Preis jedweden Geschmacksverzichts. Das nun war die Intentionen jener Gestalter nicht, die den Einband für Joachim Maazens neuestes Buch entworfen und gestaltetet haben. „Die narzisstische Gesellschaft, ein Psychogramm“, lautet der Titel dieses Buches und ihm beigegeben ist eine inkludierte Spiegelfolie.
Die Botschaft ist unmissverständlich, zumal sie im Textteil des Buches dann klug und nachvollziehbar expliziert wird: Betrachte Dich zuallererst selbst, wenn es um die gern kolportierte Verfluchung des Egoismus in nahezu jeder Komponente unseres Lebens geht. Es sind nicht nur die anderen – Du selbst bist alles andere als frei davon. Zu tun hat das, wie Maaz in ebenso sachkundiger Ausführlichkeit wie auch provozierender Streitbarkeit entwickelt, mit seinem Narzissmus-Begriff. Dieses psychologische Phänomen existiert in einer „gesunden“ Variante, einem guten Selbstbewusstsein, das – wie Maazens Sicht belegt, weder für die Betroffenen wie für die Gesellschaft ein Problem ist. Anders ist es mit jener pathologischen Ausformung, mit der der eigentlich tief verunsicherte Mensch sein missliches Dasein durch permanente und angestrengte Sucht nach Bestätigung zu kompensieren versucht.
Maaz führt solcherart Narzissmus vor allem auf eines zurück: Gestörte Eltern-, vor allem Mutter-Kind-Beziehungen der Frühzeit eines Kindes. Dort, wo Liebe nicht vorurteils- und vor allem bedingungslos erfahren wird, bleibt eine in der Regel eine Fehlstelle zurück, die – siehe oben – nachträglich durch ein zum Teil sogar suchtbesetztes Ringen um Anerkennung und Geliebtwerden zurück – meist lebenslang, letztlich unheilbar.
Maaz setzt dieses psychologische Phänomen nun aber auch zu jenen gesellschaftlichen Bedingungen in Beziehung, in denen Narzissmus gedeihen oder gar zu so etwas wie einer Norm, einer alternativlos erscheinenden Lebensstrategie werden kann. Maaz zieht zum Vergleich mit dem Zustand unseres Gesellschaft die Titanic heran, die für ihn „ein Inbegriff der gesellschaftlichen Situation geworden (ist), in der ich lebe: bei klarem Bewusstsein und ausreichendem Verstand zusehen zu müssen, wie wir unweigerlich kollektiv unseren Untergang vollziehen und dem nicht mehr Einhalt gebieten können.“ Allzu sehr ist es Standardverhalten, sich Konsum, besitz, Animation und Aktionismus zu unterwerfen, um auf diese Weise innere Leere und Liebesunfähigkeit zu kompensieren.
Maaz belässt es durchaus nicht bei einer solch resignierenden Bilanz. In einer „Vision von einer demokratischen Revolution“ entwickelt er die knappe Utopie eines Umdenkens. Dies aber verlangt er Menschen ab, die wohl in ihrer Mehrheit narzisstisch gestört sind und an einem Umdenken solange kein Interesse – und zum Teil auch keine intellektuelle Befähigung – haben, so sie ihr Ego mit den im Überfluss suggerierten und angebotenen Ersatzlösungen befriedigen können. Das mindert auch die Praktikabilität des in Frageform gesetzten Vorschlages, warum es kaum einen Beruf ohne entsprechende Ausbildung und Prüfung gibt, nicht aber verpflichtende Elternschulen. Wo wäre das Lehrpersonal zu rekrutieren, wo doch laut Maaz „alle Eltern begrenzt und fehlerhaft (sind)“?
Aber damit ist auch auf einen großen Vorzug des Buches hingewiesen: Maaz doziert keine letzten Wahrheiten, er macht ein intellektuelles Angebot, das freilich gestützt auf langjährige eine Kompetenz als Psychiater und Psychoanalytiker, die er bereits auch in zahlreichen Publikationen unter Beweis gestellt hat. Neuerlich ein gutes, weil wichtiges Buch.

Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, C. H. Beck, München 2012, 234 Seiten, 17,95 Euro