15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Im Mahlwerk seiner Genossen

von Hajo Jasper

Dieses Buch ist wichtig, wie – jedenfalls – viele jener Bücher wichtig sind, die sich mit dem auseinandersetzen, was gemeinhin unter Stalinismus verstanden wird: Repression und Rückgratbrechung von Millionen, und Vernichtung von abermals Millionen – im Wesentlichen eigener Leute, wohlgemerkt. Wichtig, daran zu erinnern ist dabei nicht, dass dem singulären Massen- und Völkermord der Faschisten relativierend ein „gleichwertiger“ Tatbestand beigegeben wird. Wichtig ist das Aufrechterhalten der Erinnerung daran deshalb, weil im Unterschied zum Faschismus die Verbrechen des Stalinismus und Poststalinismus im Namen jener hehren Sache verübt worden, die da lauteten: freie Entfaltung der Persönlichkeit statt Unterdrückung, Völkerliebe statt Völkerhass. Wer also heute eben jenen Idealen weiter anhängt – und diese Ideale verdienen das ja durchaus – der sollte sich stets auch jenes Teils des Weges dahin bewusst sein, der mit dem Ziel denn letztlich doch so wenig zu tun hatte.
Die Geschichte, die Sergeij Lochthofen über die seines Vaters erzählt, gehört zum Kanon jener Unverzeihlichkeiten, die in den dreißiger- und vierziger Jahren erst in der UdSSR und dann auch in den Ländern ihrer hinzugewonnenen Einflusssphäre im Namen der „guten Sache“ der Menschheitsbefreiung begangen worden sind; dabei viel zu systematisch und gravierend, um als peinliche „Entgleisung“ abgetan werden zu können. Lorenz Lochthofen, vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet und bereit, sich am dortigen Aufbau des Sozialismus selbstlos zu beteiligen, gerät durch – wie so oft – denunzierte Nichtigkeiten in die Mühle der „großen Säuberung“. Aus den „gnädig“ verabreichten fünf Jahren Lager in Workuta am Polarkreis, das allein zum Grab von rund einer Viertelmillion Häftlingen wird, werden für Lochthofen schließlich 20 Jahre. Dennoch, und obwohl er sich gegen seinerzeitige Verfügungen dann sogar noch darum bemühen muss, nicht in sein heimatliches Dortmund sondern in die DDR – auch für Lochthofen Hoffnung auf ein neues Deutschland, an dem er teilhaben möchte – , zurückkehren zu können, sieht er sich als „Ehemaliger“ auch dann von Misstrauen umgeben, wenn er nach und nach verantwortliche Aufgaben in der jungen DDR-Wirtschaft übernehmen kann. Wobei besonders tragikomisch ist, dass die Methoden, mit denen er wirklichen, also messbaren Erfolg erzielt – ob bei Straßenbahnbau in Gotha oder als Direktor des Büromaschinenwerkes Sömmerda –wieder und wieder neues Misstrauen erweckt – seiner „Genossen“ wohlgemerkt […]
Die Lebensgeschichte von Lorenz Lochthofen ist alles andere als eine Werbung für das, was sich je „die gute und gerechte Sache des Sozialismus/Kommunismus“ nannte. Sie ist indes auch ein Beleg dafür, dass man einem Ideal auch dann treu sein kann, wenn man selbst das „eigene“ Umfeld ein Minenfeld ist.
Sohn Sergej Lochthofen, Autor dieses Romans über seinen Vater, ist Journalist, und zwar ein durchaus namhafter. Hätte er dieses Buch als Tatsachenbericht verfasst, wäre es vermutlich ohne Abstriche zu loben. Sich aber auf’s Belletristische einzulassen, wozu ein Roman ja wohl zu rechnen ist, dürfte als misslungen zu bezeichnen sein. Nicht die Schilderungen des Schicksals von Lorenz Lochthofen sind damit gemeint, vielmehr die vielen Dialoge, in denen der Autor versucht hat, die – sicher zu Recht – unterstellten Denkweisen der Akteure gleichsam prototypisch und damit didaktisch ins Bild zu setzen und dem fortlaufenden Geschehen dergestalt einen erklärendes Umfeld zu verschaffen. Gut gemeint, aber nicht gut gelungen, was schade ist, denn zuallererst gilt: siehe oben …

Sergej Lochthofen: Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters, Rowohlt 2012, 447 Seiten, 19,95 Euro