15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

„Gehst Du zur Eibe, vergiss den Nietzsche nicht“

von Kai Agthe

Schopenhauer würde das Buch „Parerga und Paralipomenona“ genannt haben. Bei Heiner Feldhoff heißt es „Paul Deussen und ich – Nachträge aus Oberdreis“. So betitelt, weil nicht nur der Autor in dem kleinen Ort im Westerwald lebt, sondern weil der Indologe und Philosoph Paul Deussen dort 1845 geboren wurde. Diesem hat Feldhoff 2008 eine Biografie gewidmet. Sein Beiwerk, seine Nachträge sind ein schmales Bändchen, das von biografischen Essays umrahmt wird. Eingebettet darin Abschnitte mit Aphorismen über den Gelehrten.
Paul Deussen bekrönte sein wissenschaftliches Leben als Ordinarius für Indologie in Kiel und beschloss es daselbst 1919. Er ist durch die Freundschaft mit Friedrich Nietzsche bekannt geblieben bzw. berühmt geworden. Beide lernten sich als Schüler in der königlich-preußischen Landesschule Pforta bei Naumburg kennen und schätzen. Über seine Freundschaft zu dem ein Jahr älteren Weggefährten hat Deussen im Buch „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“ berichtet, das 1901 erschien, ein Jahr nach dem Tod des Freundes in Weimar. „Thomas Mann hat den Schriftsteller Paul Deussen geadelt, indem er von ihm fertige literarische Sätze übernommen hat“, heißt es im zweiten Feldhoff-Aphorismus. Zu diesen Vorlagen gehört auch die Schilderung von Nietzsches unfreiwilligen Abstecher in ein Bordell in Köln. Nietzsche, damals Student in Bonn, bat seinen Fremdenführer, ihm ein Restaurant zu zeigen. Der aber führte ihn jedoch in ein verruchtes Etablissement. Nietzsche will die Peinlichkeit überspielt haben, in dem er sich ans Klavier setzte, kurz improvisierte und dann das Weite suchte. So zumindest berichtet es Paul Deussen in seinem Nietzsche-Buch. Und so kann man es fast wortgetreu in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ (1947) lesen.
Deussen studierte nach seiner Schulzeit in Pforta mit Nietzsche in Bonn Theologie, wechselte dann, ohne ihn, nach Tübingen und Berlin. Er promovierte über Platon, war zunächst Lehrer in Minden und Marburg, legte im Kriegsjahr 1871 das Theologie-Examen ab und war dann Hauslehrer in Genf und Aachen. Deussen konzentrierte sich auf die Indologie, studierte Sanskrit, habilitierte dazu in Berlin, erhielt eine außerordentliche Professur und wurde 1890 Ordinarius für Philosophie an der Universität Kiel. „Auch war Deussen“, so Feldhoff, „der erste (und bis heute wohl der einzige) Universitätsphilosoph, der in Wort und Schrift Sanskrit beherrschte, und dies in einer brahmanischen Priestern ebenbürtigen Kompetenz.“
Heiner Feldhoffs Aphorismen sind von unterschiedlichem Gewicht. Es mutet einerseits seltsam an, wenn er Deussen „meinen Paul“ nennt. Es ist aber andererseits witzig, wenn der Autor eine Anekdote aus Oberdreis mitteilt, die mit Nietzsche verbunden ist, der seinen Freund dort 1864 und 1865 besuchte: „Neben dem Beilstein gibt es in Oberdreis ein zweites Naturdenkmal: eine uralte Eibe. Auch Nietzsche wird sie bei seinem Aufenthalt in Oberdreis gesehen haben. Seither ist im Ort die Redewendung geläufig: „Wenn du zur Eibe gehst, vergiss den Nietzsche nicht.“ Das ist, unschwer zu erkennen, ein Sprachspiel zu Friedrich Nietzsches bekanntem, aber stets falsch zitiertes „Zarathustra“-Wort: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht.“ Der Fairness halber sei darauf hingewiesen, dass das inkriminierte Diktum aus zwei Sätzen besteht: „Du gehst zum Weibe? Vergiss die Peitsche nicht!“ Gesagt wird es übrigens von einer alten Frau, nicht von Zarathustra und streng genommen auch nicht vom Menschen Nietzsche, sondern von der Autoreninstanz namens Nietzsche. Denn, wie in „Ecce homo – Wie man wird, was man ist“ zu lesen: „Das eine bin ich, das andere meine Schriften“.
Heiner Feldhoff scheint Nietzsche aber nicht sonderlich zu mögen. Er beißt ihn weg. Wenn er in einem Notat die „schöne Ruhe in den Deussen-Schriften“ lobt, so mag er es bei Nietzsche nicht, „in aller Lesestille angeschrien zu werden“. Wenn es einer geschafft hat, Nietzsche um Schreien zu bringen, dann war es nicht Nietzsche selbst, sondern Einar Schleef (1944-2001) der im Jahr 2000, sowohl als Soloprogramm als auch im Rahmen seiner Bühnencollage „Verratenes Volk“, Auszüge aus dessen Autobiografie „Ecce homo“ auswendig hersagte.
Der einführende Essay zu Leben und Werk Paul Deussens, der, wie gesehen, ein Gelehrter klassisch-akademischen Zuschnitts mit singulärer Kompetenz in Sanskrit war, ist spannend zu lesen und macht Lust, auf Feldhoffs Biografie über den Indologen und Philosophen. Deussen edierte übrigens ab 1911 auch eine Schopenhauer-Werkausgabe und wurde als Dank für ein Buch über den Schuster und Philosophen Jakob Böhme von der Schusterinnung in Görlitz zum Ehrenmeister ernannt. Heiner Feldhoffs „Paul Deussen und ich“ ist ein schmaler Band, aber eine große Hommage für eine bemerkenswerte Wissenschaftspersönlichkeit.

Heiner Feldhoff: Paul Deussen und ich. Nachträge aus Oberdreis, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011, 85 Seiten, 14,50 Euro