von Heinz Jakubowski
Der Verfasser dieser Zeilen, sich in seiner zweiten Lebenshälfte bewegend, hatte vor ein paar Jahren die Eingebung, sich aller möglichen Dinge zu erinnern, die mit seinem Lebensweg verbunden gewesen sind, jedenfalls so, dass er sie – wenn auch zum Teil mit einiger Mühe – gedanklich abrufen kann, da diese Vorgänge ihm also einen bleibenden Eindruck gemacht haben, ganz gleich, ob es sich um Dramatisches handelt oder um Banales. Nicht, dass er sein Dasein für fürchterlich wichtig hielte, es ist lediglich eines von vielen anderen. Dennoch: Aus alledem, so hat er sich vorgenommen, möchte er für seine Nachfahren eine Art Patchwork-Biografie erstellen – ganz sicher unvollständig und subjektiv-unvollkommen, aber doch Konturen eines Lebenslauf von sich zeichnend, die Kinder und Enkel dann zu ihrem Bild von seinem Leben ausmalen werden.
Abgesehen davon, dass ich also nie eine Veröffentlichung von „Flickenteppich-Memoiren“ im Sinne hatte, bin ich jetzt aber auf eine solche gestoßen, vor der ich vor Begeisterung und mehr noch vor Berührtheit nahezu niederknien möchte. „Momentum“ hat Roger Willemsen sein jüngstes Buch genannt und in ebendiesem sein Leben quasi aus Momenten zusammengesetzt. „Augenblicke von atmosphärischer Intensität stehen neben Entscheidungssituationen. Erinnerung an eine Kindheit im Rheinland stehen neben Reisebildern aus der ganzen Welt. Komische und absurde Dialoge stehen neben stillen Natur- und Kunstbetrachtungen, Krisenerfahrungen neben Augenblicken der Liebe“, heißt es in einem Klappentext, der getrost zitiert werden kann, umreißt er doch höchst zutreffend das, womit Willemsen den Leser gefangen nimmt und ihn eben – quasi parallel zum Lesen – zu Blicken ins eigene Innere verführt.
Und deshalb – keineswegs der Einfachheit halber sondern der semantischen Präzision wegen – sei abermals der – Verlagstext bemüht: „Roger Willemsen weiß, dass wir ein Leben nicht verlängern können, aber auch, wie wir das Gefühl und Bewusstsein für seine kleinsten Einzelheiten steigern können. Damit ist `Momentum` nicht nur ein sehr persönliches Buch der Erinnerung, sondern zugleich eine einzigartige Anleitung, die entscheidenden Momente unseres Lebens zu erkennen und zu bewahren. Eine Feier des Augenblicks.“
Bücher, die – jedenfalls solche, deren Autoren über ein entsprechendes Sensorium verfügen – einen in der Art gefangen nehmen wie dieses von Roger Willemsen, gibt es nicht gar so viele. Erinnert fühlt sich der Rezensent irgendwie an Joachim Fests „ Im Gegenlicht“, einer Reisebeschreibung Süditaliens. Wiewohl Willemsens Gegenstand ein anderer ist – besser gesagt: aus vielen Gegenständen besteht, darunter auch zahlreiche Reiseimpressionen – trifft sich hier eine der seltenen Begabungen: Phantasiebefördernde Beschreibungen in einer wunderbaren Sprache mit Reflexionen über das Erlebte und Gesehene zu verbinden, auf dass auch derjenige daraus Wissen und intellektuelle Beglückung erfährt, der im Beschriebenen nicht zu Hause ist.
In der der Biografie eines anderen zu Hause zu sein, darf eh’ als unmöglich gelten. Aber einen Menschen nahe bringen vermag ein Text freilich, zumal dann, wenn der Autor – wie Roger Willemsen – so viel von sich preisgibt. Nichts also mit Belehrung oder gar Bekehrung. Willemsen erzählt Leben – und etwas Spannenderes gibt’s noch immer nicht.
Also: Lesen!
Und sich seiner selbst erinnern!
Roger Willemsen, Momentum, S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 316 Seiten, 21,99 Euro
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