von Heerke Hummel
Aus einem sehr ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet David Graeber die Finanzkrise in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“. Der Anthropologe blickt weit in die Geschichte zurück, um zu ergründen, was es mit der Schuld, dem und den Schulden, mit Kredit, Geld und Kapital sowie mit dem Verhältnis von Staat und Markt auf sich hat. Ins Gericht geht er mit Ökonomen, die alle menschlichen Beziehungen vorrangig auf Tausch und Tauschhandel reduzieren. Mit Erkenntnissen der Anthropologie erläutert er „eine Sicht der moralischen Basis des Wirtschaftslebens“ und zeigt, wie das Tauschprinzip weitgehend als eine Folge von Gewalt entstanden ist und dass „die wahren Ursprünge des Geldes bei Verbrechen und Vergeltung zu finden sind, bei Krieg und Sklaverei, Ehre, Schuld und Sühne“.
Hoch interessante Darstellungen von Wirtschaft, Markt und Staat in ihrem Wechselspiel im alten China, Indien und Orient, in der europäischen antiken Welt sowie im Mittelalter vermitteln dem Leser eine ziemlich realistische Vorstellung davon, wie früher gewirtschaftet wurde, wie die Wirtschaft, der Markt und der Handel funktionierten. Zu den Überraschungen mag beispielsweise die Tatsache gehören, dass unter anderem noch mittels antiken römischen oder später karolingischen Geldes gehandelt wurde, als dieses schon lange nicht mehr in seiner sachlichen Form vorhanden war. Des Rätsels Lösung: der Kredit, ein uraltes ökonomisches Instrument.
Auf dieser Basis wirft der US-Amerikaner dann „einen neuen Blick auf die letzten 500 Jahre, in denen die kapitalistischen Großreiche dominierten“, um sich schließlich mit der Frage zu befassen, „was heute tatsächlich auf dem Spiel stehen könnte“. Es handelt sich um den Zeitraum, in welchem sich die Wirtschaft auch als selbständiger Wissenschaftszweig etablierte. Seinen Theoretikern steht Graeber außerordentlich kritisch gegenüber. Größtenteils wohl zu Recht! Denn der Schaden, der mit ihren Erkenntnissen und Lehren angerichtet wurde, scheint mir unvergleichlich größer zu sein als der Nutzen für die Menschheit, der durch sie gestiftet wurde. (Wie sähe die Welt wohl heute vielleicht aus, hätte es nie eine Wissenschaft von der Ökonomie gegeben?) Die klassische bürgerliche Wirtschaftswissenschaft von W. Petty über A. Smith bis D. Ricardo brachte die Erkenntnis hervor, dass der Reichtum der Menschheit der menschlichen Arbeit zu verdanken ist. Doch ihre Erben sahen ihre Pflicht vor allem nur noch in der Apologetik überkommener Produktionsverhältnisse, insbesondere des Privateigentums und des egoistischen Gewinnstrebens, sei dies auch noch so desaströs und schließlich nur noch zu völlig sinnentleerten Zahlenkolonnen führend, die aus mathematischen Modellen und blitzschnellen Computerspekulationen hervorgehen – koste es was es wolle und sei es auf Kosten der gesamten uns umgebenden Natur als unsere Lebensgrundlage überhaupt. Und die Erben des Humanisten Karl Marx, der den ökonomischen Mechanismus kapitalistischer Ausbeutung mit dem letztlich moralischen Ziel aufdeckte, dass auf der Grundlage seiner Erkenntnis eine wahrhaft menschliche Gesellschaft gestaltet werden könne? Auch sie zementierten das Denken ihres Meisters in Dogmen, die schließlich zur Perversion ökonomischer und politischer Macht auf mehr als einem Sechstel unseres Erdballs führten.
David Graeber nun ist kein Theoretiker. Er zeichnet ein beeindruckend plastisches Bild vom wirklichen Wirtschaften und ökonomischen Denken früherer Epochen und macht dabei deutlich, dass, dem Wesen nach, es ziemlich alles schon einmal gab, was heute in ökonomischer Hinsicht gedacht und getan wird. Verändert haben sich vor allem die Dimensionen ökonomischer Handlungen und ihrer Wirkungen. Zu Recht kritisiert er die Theoretiker unter den Ökonomen. Aber er erklärt mit seinen Betrachtungen der Erscheinungen an der Oberfläche wirtschaftlicher Prozesse auch nicht den eigentlichen Grund des heutigen Desasters: Geld (auch virtuelles) wird heute für Reichtum gehalten, für den es aber nur ein Symbol darstellt. (Über Symbole lässt Graeber sich über mehrere Seiten explizit aus.) Zwar kann dieses Symbol unvergänglich sein, aber nicht der reale Reichtum. Der muss verbraucht und ständig durch jede Generation selbst von neuem (re)produziert werden. Heute wollen und sollen nicht nur einige Wenige für die Zukunft sparen, sondern ganze Gesellschaften. Das ist der große Irrtum, die Idiotie der Gegenwart.
Ein weiterer gravierender Unterschied zu früheren Zeiten besteht heute darin, dass angesichts der modernen Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft eine Produktion um der Produktion willen die natürliche Welt zerstört. Bei Graeber spielt der technische Fortschritt so gut wie keine Rolle bei der Betrachtung ökonomischen Wandels. Wie auch? Der Anthropologe vergleicht ökonomische Erscheinungen vor allem als Moralist, dem offenbar die marxistische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Prozesse als Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen fremd ist. Dennoch leistet David Graeber einen äußerst wertvollen praktisch-moralischen Beitrag zur Überwindung des finanzgetriebenen Systems gesellschaftlicher Selbstzerstörung, zur Anpassung des Überbaus (gerade auch der gesellschaftlichen Moralvorstellungen) an die hoch entwickelte materielle, ökonomische Basis der Gesellschaft. Vielleicht ist dies (wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt) sogar wichtiger als die unter anderem von Marxisten gebotene intellektuelle Einsicht in die Notwendigkeit politischer Akte, mit denen der hoch effektiven Wirtschaftskraft der Menschheit eine neue, wieder menschliche Wirkungsrichtung gegeben werden könnte. Denn was wir heute brauchen, ist „nur“ noch ein Massenbewusstsein mit einer neuen Moral, welche postuliert: Schulden und ihre Tilgung bzw. Löschung sind keine Sache der Ehre, sondern des Rechts, das es staatlich noch zu setzen gilt.
Bei dem Mitbegründer und Vordenker der Occupy-Bewegung klingt das am Schluss seines Buches so: „Ich habe den Eindruck, ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden. Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht. All diese Vorstellungen sind menschliche Erfindungen, und in einer richtigen Demokratie hätten alle Menschen die Möglichkeit, ihre Gesellschaft anders zu organisieren.“
Großartig! – Auch wenn Graeber dieses letzte Kapitel seines Buches mit „1971 – Der Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ überschrieben hat, was wohl nicht ganz stimmt. Denn Mitte August 2006 hatte die „Junge Welt“ einen Beitrag mit dem Titel „Währung ohne Basis“ veröffentlicht, in welchem der Autor den hier und nun von Graeber erörterten Bruch des Abkommens von Bretton Woods im Jahre 1971 als eine weltweite Veränderung der Produktionsverhältnisse bezeichnete, weil er das Geld – ökonomisch gesehen, nicht juristisch! – in eine gesellschaftliche Bescheinigung über geleistete Arbeit bzw. in einen individuellen Anteil(schein) am Reichtum der Gesellschaft verwandelte. Einen solchen Wandel hatte Karl Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ von einer kommunistischen Gesellschaft erwartet, die seiner Meinung nach allerdings vom Proletariat gestaltet werden sollte. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass US-Präsident R. Nixon als der mächtigste Interessenvertreter des Kapitals in der Welt den entscheidenden ökonomischen Akt dazu selbst vollzog, ohne es zu ahnen. Die juristische Seite der Angelegenheit wartet nun dringend auf ihre Angleichung. Es gilt, den geistig-politischen und juristischen Überbau dieser Gesellschaft mit ihrer ökonomischen Basis in Übereinstimmung zu bringen. David Graebers Buch wird dafür den Boden mit bereiten.
David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 536 Seiten, 26,95 Euro
Schlagwörter: David Graeber, Finanzkrise, Heerke Hummel, Klett-Cotta, Moral