15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Auf der Zielgeraden zur Einheit

von Wolfgang Ghantus

Der Autor ist seit über 60 Jahren als freischaffender Dolmetscher tätig. Er hat in der DDR für höchste Partei- und Staatsrepräsentanten gearbeitet und war bei zahlreichen internationalen Konferenzen zugegen. Auch für den letzten Ministerpräsidenten der DDR hat er gedolmetscht. Seine beruflichen Lebenserinnerungen entfächern ein beeindruckendes Panorama von Begegnungen mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte in zahlreichen Ländern und von unmittelbaren Eindrücken wichtiger historischer Begebenheiten.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages dokumentieren wir das nachfolgende Kapitel.

Die Redaktion

Ein großer Zeitsprung führt uns in das Jahr 1990 und mich zu weiteren Einsätzen auf der politischen Weltbühne. Am 18. März 1990 wurde in der DDR ein neues Zeitalter eingeläutet. Aus den ersten freien Wahlen seit der Weimarer Republik ging als Sieger nicht die SPD hervor, wie von vielen Beobachtern prognostiziert, sondern die von der CDU geführte Allianz für Deutschland. Die Volkskammer sprach einer Koalitionsregierung von CDU und SPD das Vertrauen aus. Der Rechtsanwalt und Synodale Lothar de Maizière wurde der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR.
Erneut läutete in meinem Arbeitszimmer das Telefon. Am anderen Ende meldete sich ein Dr. X aus dem Büro des Ministerpräsidenten in der Berliner Parochialstraße, all die Jahre zuvor die Befehlszentrale von Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates der DDR. Der Anrufer wollte sicher gehen, dass ich der Dolmetscher bin und nach wie vor meinen Beruf ausübe. Wenn ja, würde man sich gern mit mir unterhalten, am besten in den ministeriellen Amtsräumen. Es handele sich um einen Auftrag und eventuell eine längerfristige Mitarbeit. In der Parochialstraße angekommen, wurde ich in einen saalgroßen Büroraum geführt. An den Wänden rechts und links hatten einige auffällig harmlos gekleidete Herren Platz genommen, die mich aufmerksam musterten und nun die Ohren spitzten. In der Mitte vor zwei hohen Fenstern saß hinter einem übergroßen Schreibtisch ein freundlicher Herr, der mich mit schwäbischem Dialekt ansprach: „Wir sind darüber informiert, für wen und unter welchen Voraussetzungen Sie all die Jahre gearbeitet haben. Das ist jedoch nicht entscheidend. Zwei Dinge ver­langt der Ministerpräsident, Leistung und Loyalität. Wären Sie bereit und in der Lage, ihn auf seinen be­vorstehenden Auslandsreisen als Dolmetscher auf Honorarbasis zu begleiten?“ Ich war überrascht und erfreut: „Ob meine Fähigkeiten ausreichen, wird sich bei der Arbeit zeigen. Ich werde mich jedenfalls nach Kräften bemühen. Bereit bin ich auf jeden Fall.“ Von Stund an war ich engagiert. Am nächsten Morgen wurde ich Lothar de Maizière vorgestellt. Es begann eine Arbeitsperiode von sechs aufregenden Monaten, die mein Leben mit bedeutenden Einsichten ungeahnt bereicherten.
Die einmaligen Besonderheiten der Regierung de Maizière ergaben sich aus ihren innen- und außenpolitischen Zielsetzungen. Noch nie in der Geschichte war eine Regierung mit dem Ziel angetreten, sich mit Erreichung der Einheit so bald wie möglich selbst überflüssig zu machen. Einheit, so de Maizière in seiner Regierungserklärung, bedeutet auch Teilen, nämlich des Wohlstands. In persönlichen Gesprächen betonte der bekennende Protestant, das vereinte Deutschland müsse östlicher und protestantischer werden. In diesem Sinne leistete er mit seiner Regierungsmannschaft und in der Volkskammer eine bis an die physische Leistungs­grenze gehende Arbeit, um den Wählerauftrag zu erfüllen und möglichst viele positive Errungenschaften in die Einheit einzubringen. Außenpolitisch warnte er nachdrücklich davor, die UdSSR und ihre ehemaligen Satelliten aus der Gemeinschaft des demokratischen Europa auszugrenzen. Diese Linie vertrat er unermüd­lich gegenüber den internationalen Besuchern in seinem Berliner Amtssitz und vor allem auch auf seinen Auslandsreisen.
Die erste Reise, an der ich als Dolmetscher teilnehmen durfte, ging in die USA. Wir logierten im UNO-Plaza-Hotel in New York und im Watergate-Hotel in Washington. Gesprächspartner waren der römisch-ka­tholische Bischof von New York, der UN-Generalsekretär Perez de Cuellar und führende Wirtschaftler in der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer. Als Höhepunkt der Reise stand ein Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush sen. auf dem Programm. Das war weit mehr als eine formale Geste. Vom Oval Office ging es in den Cabinet Room, den Beratungsraum der US-Regierung. Auf der amerikani­schen Seite des Verhandlungstisches hatten neben dem Präsidenten mehrere Minister und Staatssekretäre Platz genommen. Der Meinungsaustausch zwischen der kleinen DDR und der Weltmacht USA dauerte fast zwei Stunden. Die Atmosphäre war betont freundlich, denn die USA war fast der einzige Staat, der die deutsche Wiedervereinigung von Anfang an vorbehaltlos unterstützte. Wir dolmetschten zu zweit simultan, meine deutsch-amerikanische Kollegin Gisela Mar­cuse für die Amerikaner ins Deutsche und ich für die DDR-Gäste ins Englische. Das Gespräch zwischen Bush und de Maizière fand anschließend im Rosengarten des Weißen Hauses unter vier (sechs) Augen seine Fortsetzung und dann wieder in großer Besetzung am Mittagstisch im State Dining Room. Halb hinter dem DDR-Ministerpräsidenten sitzend, wurden mir von einem livrierten Steward kleine Häppchen zugeschoben, die ich beim Dolmetschen unauffällig genießen konnte. Eine überaus sympathische und bei Gala-Empfängen durchaus nicht allgemein übliche Geste.
„Mir ist zu Ohren gekommen“, so Präsident Bush, „dass Sie, mein lieber Mister de Maizière, ursprünglich eigentlich Musiker waren und aus gesundheitlichen Gründen die schönen Künste als Beruf aufgeben mussten und Rechtsanwalt wurden. Jetzt sind Sie in der Politik gelandet. So geht im Leben vieles den Bach runter.“ Solche humorigen Auslassungen waren typisch für die gelockerte Atmosphäre. Zum Abschluss wurden wir in den Blauen Salon gebeten, wo ein Quartett von Marine-Infanteristen zu Ehren des Musikers de Maizière ein Kammerkonzert zum Besten gab. Dieser Tag war eine Demonstration der freundschaftlichen Verbundenheit. Für alle Beteiligten war es aber auch anstrengend und weit mehr als ein Höflichkeitsbesuch, wenngleich Präsident Bush einen Vorschlag de Maizières zwar freundlich zur Kenntnis nahm, jedoch meinte, es würde sich mit der Einheit ohnehin regeln, nämlich als anerkennende Geste gegenüber der friedlichen Revolution der nunmehr demokratischen DDR die Meistbegünstigungsklausel im Handel zu gewähren. So weit ging im Sommer 1990 die Freundschaft dann doch noch nicht. Nach einem Treffen mit etwa 400 Journalisten im National Press Club fand der Tag seinen Abschluss vor Hunderten von Studenten auf der Bühne des Auditorium Maximum der Georgetown Universität. Lothar de Maizière hielt eine packende Rede und berichtete über den Verlauf der friedlichen Revolution in der DDR. Seine Worte: „Nicht Gewehre, sondern brennende Kerzen waren unsere Waffen gegen Stasi und Volkspolizei“, gingen in tosendem Beifall unter.
Ein Treffen der besonderen Art war eines Abends die Zusammenkunft mit Edgar Bronfman. Er war der international hoch geschätzte Präsident des Jüdischen Weltkongresses und hatte besonders in der Gorbatschow-Ära intensiv und mit Erfolg darauf hingewirkt, dass Juden aus der Sowjetunion endlich in großer Zahl die Ausreise nach Israel ermöglicht wurde. Auch Erich Honecker hatte sich hartnäckig um einen Kontakt mit dem Jüdischen Weltkongress bemüht, Bronfman im Jahre 1988 zu einem offiziellen Besuch in die DDR eingeladen und ihm bei einem festlichen Staatsakt den Großen Stern der Völkerfreundschaft verliehen.
Jahrelang arbeiteten die Diplomaten der DDR auf einen Staatsbesuch in den USA hin, nicht zuletzt mit Unterstützung von amerikanischen Politologen, die damit einen Beitrag zur Entspannung im Kalten Krieg leisten wollten. Honecker wollte mit einem solchen Staatsbesuch ein Zeichen zur internationalen Aufwertung der DDR setzen und hoffte, dass Bronfman ihm die Tür zum Weißen Haus öffnen könnte. Der nahm die Auszeichnung an, freundlich und zugleich zögernd. Honeckers jahrelange Hoffnung ging jedoch nicht in Er­füllung. Nun saßen wir zwei Jahre später in Midtown Manhattan in einem Fünf-Sterne-Hotel an einem Tisch. Lothar de Maizière sprach über die Perspektiven und Probleme der deutschen Wiedervereinigung, beantwortete Fragen nach dem jüdischen Leben in Ostdeutschland. Er traf auf offene Ohren und Herzen. Er hatte erreicht, worum sich die alte DDR unter Honecker jahrelang ver­geblich bemüht hatte. 1999 wurde Edgar Bronfman die Presidential Medal of Freedom verliehen, die höchste zivile Auszeichnung der USA.
Eine weitere Station des sechsmonatigen Marathons war erstmals in der Nachkriegsgeschichte die Teilnahme eines osteuropäischen Regierungschefs an einem Gipfeltreffen der EG. In der Hauptstadt Irlands waren alle Größen der noch westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft versammelt: Margaret Thatcher, François Mitterrand, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher und als besondere Attraktion der Ministerpräsident der DDR. Seine Tischrede wurde mit großer Aufmerksamkeit und Beifall aufgenommen. Sie war ein Bekenntnis zu Europa. Zwischen ihm und seinem Tischnachbar, dem Spanier Felipe Gonzales, kam es über zwei Sprachen zu einem langen Gespräch, das mich arg ins Schwitzen brachte und der Hilfestellung eines Spanisch-Englisch-Dolmetschers bedurfte.
Die Republik Irland erlebte im Jahr 1990 einen beispielhaften wirtschaftlichen Aufschwung, zu dem de Maizière beim Treffen mit dem irischen Staatspräsidenten und mit Wirtschaftsexperten viele Fragen hatte, galt es doch zu Hause die Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-Union auf den Weg zu bringen. Zum Abschluss unseres Irland-Besuches gab die Stellvertretende Regierungssprecherin Dr. Angela Merkel eine gut besuchte Pressekonferenz und beantwortete mit meiner sprachlichen Hilfe Dutzende von Fragen. Damals brauchte sie noch einen Englisch-Dolmetscher, heute als Bundeskanzlerin absolut nicht mehr. Ich saß neben ihr und bewunderte, mit welcher Souveränität die damals 36-jährige Jungdiplomatin den nicht leichten Umgang mit oft aggressiven Journalisten charmant in den Griff bekam.
Von Dublin flogen wir nach London. Da ich die Stadt gut kannte, konnte ich mich auch als Stadtführer nützlich machen, unter anderem beim Besuch der Westminster Abbey und beim Treffen mit dem Erzbischof von Canterbury. Im Lancaster House waren wir Dinnergäste des britischen Außenministers Douglas Hurd. Ihn zu dolmetschen war ein sprachlicher Leckerbissen für Gourmets. Er war ein humanistisch gebildeter Politiker, der sich stets in poetischen Bildern ausdrückte. Sein literarischer Wortschatz hatte mich bereits we­nige Wochen zuvor gefordert, als ich in Berlin seine Festrede bei der symbolischen Beseitigung des legendären Checkpoint Charly live für den Rundfunk zu dolmetschen hatte.
Der eigentliche Höhepunkt unserer Londonreise war jedoch das Treffen mit Frau Premierminister Margaret Thatcher in Number Ten Downing Street.
Sie gehörte zu den europäischen Politikern mit Vorbehalten, denen der Prozess der deutschen Wiedervereinigung viel zu schnell ging. „Wäre es nicht besser, den Termin 3. Oktober zu verschieben und beiden deutschen Staaten mehr Zeit zu lassen, harmonisch zusammen zu wachsen?“ Ihr deutscher Gesprächspartner musste sie eines Besseren belehren: „Zwar würde vieles für ein langsameres Tempo und damit ein harmonisches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten sprechen. So war es ursprünglich ja auch in dem von Horst Teltschik konzipierten und auch von Hans Modrow unterstützten Zehn-Punkte-Programm vorgesehen. Doch seit dem Mauerfall verlassen täglich 15.000 Menschen die DDR in Richtung Westen. Seit Bekanntgabe des Zeitplanes mit dem 1. Juli zur Einführung der D-Mark und dem 3. Oktober als Tag der Einheit ist die Zahl auf täglich 3.000 gesunken. Bei noch längerem Warten wäre es eine Wiedervereinigung mit einer quasi entvölkerten DDR.“ Die Gespräche mit Margaret Thatcher, sowohl in Dublin als auch in London, waren für mich in zweierlei Hinsicht wieder ein besonderes Erlebnis. Nicht allzu häufig war mir eine Persönlichkeit begegnet, die ihre Gedanken so klar und eindeutig zu formulieren wusste, ein Se­gen und Lichtblick für den Dolmetscher unabhängig davon, ob man ihre Politik inhaltlich billigte oder ablehnte. Wo aber viel Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Die Vieraugengespräche (wieder sechs Augen) vor dem prachtvollen Kamin in ihrem Amtszim­mer mit einem Interieur, das den Hauch der Jahrhunderte des Britischen Empire ausstrahlte, konnten natürlich nicht voll simultan gedolmetscht werden. Beim Konsekutivdolmetschen muss man im Kopf viel speichern und blitzschnell loslegen, wenn einer der Gesprächspartner mal ein paar Sekunden Luft holt. Das Problem: Die Eiserne Lady begann am Morgen und endete gegen Mittag und holte nie Luft. Auch im Nachhinein kann ich nicht eindeutig sagen, wie es kam, dass am Ende alles glatt über die Bühne ging. Alle waren froh und glücklich. Das Eis war gebrochen, die Atmosphäre locker. Den Kaffee nahmen wir in der Küche der Gastgeberin ein, weil es vor dem Fenster des Amtszimmers zu laut wurde. Elite-Einheiten Ihrer Majestät probten für „Trooping the Colours“, die traditionelle Festparade zum Geburtstag der Queen.
Weniger spektakulär, jedoch nicht weniger inhaltsreich waren die vielen Gespräche, die der Ministerpräsident mit zahlreichen ausländischen Gästen an seinem Berliner Amtssitz hatte. Alle wollten wissen, wie es in Deutschland weitergehen wird, politisch, wirt­schaftlich und kulturell. War doch die angepeilte Vereinigung der beiden deutschen Staaten ohne Beispiel in der Geschichte. Am Nachmittag eines sonnigen Tages im August stellte diese Fragen auch Henry Kissinger, der jahrelang die Außenpolitik der USA maßgeblich geprägt und 1973 für seine Verdienste um das Zustandekommen des Friedensabkommens mit Vietnam gemeinsam mit seinem vietnamesischen Verhandlungspartner den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Dieses Gespräch war ausführlich, tiefgründig und für mich als Dolmetscher nicht ganz stressfrei. Kissinger sprach mit seinem tiefen Bass englisch, passte aber höllisch auf, dass auch die kleinste Nuance richtig übersetzt wurde. Er konnte der Unterhaltung in beiden Sprachen folgen, war Deutsch doch seine Muttersprache gewesen, bevor seine jüdische Familie 1938 aus Nazi-Deutschland in die USA emigrierte.
Es kostet mich ziemlich viel Beherrschung, diese sechs Monate Arbeit für Lothar de Maizière in weni­gen Zeilen zu beschreiben. Sie hat mein Berufsleben und mein Geschichtsbild bereichert. Seine Person mit preußischen, protestantischen Hugenottenwurzeln hat mir vor Augen geführt, dass man Preußen nicht auf seine militärischen Traditionen reduzieren darf, was allzu häufig getan wurde. Er hat uns allen in seiner kurzen Amtszeit preußische Tugenden vorgelebt: Fleiß, Anstand, Ehrlichkeit, Redlichkeit und nicht zuletzt geistige Unabhängigkeit. Er ist ein Querdenker, wenn es um eine gute Sache geht. Für ihn war das der Auftrag seiner Wähler nach den ersten freien Wahlen in der Geschichte der DDR.

Wolfgang Ghantus: Ein Diener vieler Herren. Als Dolmetscher bei den Mächtigen der Welt, Militzke Verlag, Leipzig 2011, 215 Seiten, 17,90 Euro. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.