15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

50 Jahre Kuba-Krise – Weltpolitik aus Spaziergänger-Perspektive?

von Korff

Der fällige Kubakrisen-Gedenkartikel im Neuen Deutschland vom 20./21. Oktober 2012, also zum 50-jährigen „Jubiläum“, schafft endlich Klarheit, wie und warum es dazu kam, und klärt auch endlich, wer dafür verantwortlich war: Nicht nur die Sowjetunion, sondern Chruschtschow ganz persönlich. Und dies nicht auf der Grundlage einer strategischen Bestandsaufnahme, sondern als Frucht eines Spaziergangs, gar noch bei einem Besuch in Bulgarien. Dort habe ihn ein „junger Begleiter aus seinem Beraterstab“ darauf aufmerksam gemacht, dass in der Türkei „die Amerikaner jetzt ihre Jupiter-Raketen stationiert“ haben. Die „erreichen mit ihren Atomsprengköpfen in 15 Minuten jeden Punkt im europäischen Teil der Sowjetunion“. In diesem Moment, so der Autor  – ohne konkrete Quellenangabe, nur mit dem Hinweis: „Chruschtschow erinnerte sich später“ –, sei Chruschtschow „die Idee gekommen, sowjetische Atomraketen auf Kuba zu stationieren“. Und die Folgerung des Autors: „Damit wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, welche die Welt an den Rand eines Atomkrieges führte.“
So wissen wir also, wer schuld war an der Kubakrise, und wie verhängnisvoll Spaziergänge in Bulgarien sein können. Und auch etwas davon, wie Weltpolitik so funktioniert: Wäre Chruschtschow nicht im Mai 1962 zum Staatsbesuch nach Bulgarien gereist, hätte er womöglich nie erfahren, dass es mindestens seit 1959 US-Raketen auch in der Türkei (nahe Izmir) mit Zielrichtung Sowjetunion gab.
Das kommt davon, dass man ihm offenbar keine einheimischen oder gar ausländischen Zeitungen direkt oder ausgewertet zum Lesen gab. Das Faktum an sich war ja nicht nur ein offenes Geheimnis; es war überhaupt keines. Die Amerikaner schufen selbst Publizität, um die Sowjetunion damit unter Druck zu setzen, und die sowjetische Propaganda hatte die Tatsache der Installation von Jupiter-Raketen in Italien und der Türkei bereits ebenfalls weidlich genutzt. Nur Chruschtschow, bedauerlich, erfuhr erst 1962 per Zufall davon, löste dann aber unverzüglich die Kubakrise aus. Sollte es so gewesen sein? Das wäre, nein, ist im ND die Lesart, wie es dazu kam.
„Als die Welt am Abgrund stand…“ überschreibt ND den Beitrag und duplizierte damit eine Formulierung aus dem Titel eines bereits 2002 zum Thema erschienenen Buches von Stefan Brauburger: „Die Nervenprobe: Schauplatz Kuba: Als die Welt am Abgrund stand“. Die hier zitierte Einleitungsgeschichte weist ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten mit dem Buch-Text auf; nicht nur in der Substanz (was sachlich verständlich ist), sondern auch hinsichtlich der Geschichten um die Geschichte. Allerdings – in dem Buch finden sich hinsichtlich der Beschreibung sowjetischer Positionen mehr Konjunktive, wobei es dort zudem von unterschiedlichsten Auffassungen sowjetischer Zeitzeugen geradezu wimmelt, so dass man sich das Gewünschte herausnehmen kann.
Die „Langzeitfolgen“, die der ND-Autor am Schluss diagnostiziert, werden von Brauburger allerdings zum Teil nicht so konsequent beurteilt.
Die eine, dass es keine weiteren militärischen Angriffe der USA auf Kuba gab, schon; die andere, dass die Sowjetunion fortan ein nukleares Rüstungsprogramm absolvierte, um mit den USA gleichzuziehen, und damit ihr eigenes Grab schaufelte, weniger. Letzteres habe sich, so der ND-Autor recht apodiktisch, für „die sowjetische Volkswirtschaft […] als Katastrophe erweisen und schließlich zum Kollaps des gesamten Imperiums“ geführt.
War es wirklich das militär-strategische Gleichziehen, das den unbestreitbaren Kollaps bewirkte? Wie wäre es gekommen, wenn die USA (und ihre NATO-Verbündeten Großbritannien und Frankreich) allein über moderne Nuklearwaffen verfügt hätten? Wäre dem vietnamesischen Volk der Sieg dann womöglich leichter gelungen? Statt gegenseitiger Abschreckung einseitige sowjetische Zurückhaltung – ob das sowjetische Imperium dann heute wirklich noch bestünde, unabhängig davon, ob dies wünschenswert wäre, und wenn ja, für wen? Fragen über Fragen. Der ND-Artikel regt dazu an, darüber wieder einmal nachzudenken.