15. Jahrgang | Nummer 19 | 17. September 2012

Reisen nach Jerusalem

von Alfons Markuske

Um dieses voluminöse Werk mit dem ihm angemessenen wissenschaftlichen Tiefgang zu würdigen – nicht zuletzt, was die Quellen sowie ihre Aufbereitung und Interpretation anbetrifft –, bedürfte es eines Historikers. Der müsste überdies Experte für die Historie der Kreuzzüge sein und sich im Kompetenzniveau auf Augenhöhe mit dem Autor Jonathan Philipps befinden – seines Zeichens Professor für die Geschichte der Kreuzzüge am Royal Holloway College der Universität London, Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher zum Gegenstand seiner hier in Rede stehenden Publikation sowie Mitherausgeber der Fachzeitschrift Crusades.
Solch einen Rezensenten zählt das Blättchen leider nicht zum Kreise seiner Autoren. Doch da Philipps’ „Heiliger Krieg“ sich nicht primär an ein Fach-, sondern ans interessierte breite Publikum wendet, darf aus dessen Sicht eine – sich der eigenen Unzulänglichkeit höchst bewusste – Besprechung zumindest versucht werden.
Um das Fazit gleich an den Anfang zu stellen: Wer bisher keine zusammenhängende Darstellung der Kreuzzüge gelesen hat – dieser wichtigen Periode europäischer Geschichte, deren Geschehnisse und Folgen auf die Beziehungen zwischen Okzident und Orient beziehungsweise zwischen Christentum (vor allem in seiner katholischen Ausprägung) und Islam, aber auch der griechisch-orthodoxen Kirche bis heute nachwirken –, der sollte zu diesem Buch greifen. Er wird ein vielschichtiges, faszinierend lebendiges opulentes Panorama meist christlich begründeter oder bloß kaschierter Machtpolitik, der Geistesgeschichte, der Legendenbildung und der Realitäten diverser Kriegszüge des Hochmittelalters von der Schwelle zum 12. bis zum Übergang des 13. ins 14. Jahrhundert vorfinden, durch das sich der Leser dank einer durchgängig auf Verständnis Wert legenden Darstellung und Sprache – geradezu ein Markenzeichen heutiger britischer Historiker! – und einer adäquaten Übertragung ins Deutsche auch nicht „hindurchquälen“ muss. Selbst wer etwa die „Geschichte der Kreuzzüge“ des Hallenser Historikers Walter Zöllner kennt, die im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften zu Berlin zwischen 1977 und 1990 in sechs Auflagen erschienen ist, wird Philipps’ weit detaillierteres Buch als Bereicherung empfinden.
Die internationale Historiker-Gemeinde ist sich weitgehend einig, wann die Kreuzzüge begonnen haben: Das Startsignal gab Papst Urban II. (1088 – 1099) am 27. November 1095 auf dem Konzil von Clermont mit einem Aufruf zur „Befreiung“ Jerusalems. Von dem Mönch Robert von Reims sind folgende Worte des Papstes überliefert: „Aus dem Land Jerusalem und der Stadt Konstantinopel kam schlimme Nachricht: Das Volk im Perserreich, ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk […] hat die Länder der dortigen Christenheit besetzt […] Tretet den Weg zum Heiligen Grab an, nehmt das Land dort dem gottlosen Volk, macht es euch untertan!“ Das war der Aufruf zu einem Kolonisationskrieg, den das einhüllende Mäntelchen von der Befreiung Jerusalems nur notdürftig kaschierte, waren doch die Heilige Stadt des jüdischen Volkes, der Christenheit sowie des Islam und die Region, die unsere Väter noch als Vorderen Orient kannten, wir heute hingegen als Nahen Osten bezeichnen, zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 450 Jahren in muslimischer Hand. Auch „von einer systematischen Verfolgung der Christen durch Muslime konnte […] keine Rede sein“, wie Philipps konstatiert.
Statt dessen suchten die Römischen Päpste schon länger nach einer Gelegenheit, unter den damals noch praktisch gleichrangigen fünf christlichen Patriarchaten (Jerusalem, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria und Rom) das Primat und zugleich die oberste Autorität auch über die weltlichen Herrscher der europäischen Staaten zu erringen, über die sie damals keineswegs verfügten. Da kam ein Hilferuf von Kaiser Alexios von Konstantinopel im März 1095, ihm gegen die Muslime in Kleinasien beizustehen, gerade recht. Nach dem Konzil von Clermont spannte Urban II. das gesamte Netz der Römischen Kirche in Europa ein, um seinen Aufruf zu popularisieren. Der Erfolg war gewaltig und übertraf alle Erwartungen.
Dazu trug nicht unerheblich bei, dass einer der unmittelbaren Vorgänger Urbans II., Gregor VII. (1073 – 1085), der bei Jonathan Philipps allerdings nur am Rande eine Rolle spielt, dafür maßgebliche – heute würde man sagen: ideologische – Vorarbeit geleistet hatte. Er „bereicherte“ die vom Grunde her pazifistische christliche Religion um das Postulat, dass der Papst das Recht habe, zu den Waffen zu rufen, um für Gott und die Kirche Krieg zu führen. Und er stellte seinen Mitstreitern in derartigen Kämpfen die Vergebung all ihrer Sünden in Aussicht, was sich praktisch während der gesamten Geschichte der Kreuzzüge immer wieder als höchst wirkungsvoller Motivationshebel gegenüber Menschen aller Schichten erweisen sollte. Denn im Leben und Verständnis mittelalterlicher Menschen war die Sünde allgegenwärtig und dementsprechend groß ihre Furcht vor ewiger Verdammnis. Da wirkte die Aussicht auf allgemeine Sündenvergebung wie der sprichwörtliche Schlüssel zum Paradies, was viele einfache Menschen – neben der Aussicht auf Beute, Ruhm und andere eher irdische Dinge – veranlasste, „das Kreuz zu nehmen“ und sich auf sehr gefahrvolle, oft jahrelange militärische Abenteuer zu begeben und dafür nicht selten auch noch ihr gesamtes Hab und Gut einzusetzen, weil die Kreuzfahrer ihre Ausrüstung und Teilnahme selbst zu finanzieren hatten.
Hinzu kam, dass der Aufruf Urbans II. nicht zuletzt auf Eigeninteressen größerer und kleinerer weltlicher Herrscher traf, die sich nicht in jedem Fall mit den Intentionen Roms deckten, ja diesen zum Teil sogar widersprachen. Das sollte bald dazu führen, dass Rom die operative Kontrolle über die Kreuzzüge entglitt, und insbesondere beim vierten Kreuzzug fatale Folgen haben.
Im Herbst 1096, ein Jahr nach dem Aufruf Urbans II., machten sich die ersten großen Kreuzfahrerheere – Schätzungen zufolge etwa 60.000 Menschen; höhere Angaben (früher bis zu 500.000) gelten heute unter den Experten nicht mehr als seriös – auf ihre Reise nach Jerusalem, die von Nordeuropa aus immerhin 4.800 Kilometer maß. Im Juni 1099 waren sie nach vielerlei Strapazen, Unbill sowie verlustreichen Gefechten, Belagerungen und Schlachten am Ziel – vor den Mauern von Jerusalem. Dort entbrannte ein erbitterter fünfwöchiger Kampf, der damit endete, dass die Stadt am 15. Juli erobert wurde und dass die Kreuzfahrer, wie noch häufig in den nächsten zwei Jahrhunderten – und ihre islamischen Gegner standen ihnen darin von Fall zu Fall nicht nach – „ein grausames und abstoßendes Gemetzel veranstalteten“, wie Philipps schreibt. Die einheimischen Ungläubigen wurden ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht niedergemacht. Philipps zitiert aus einer historischen Quelle: „Stapel von Köpfen, Händen und Füßen lagen in den Häusern und auf den Straßen, und es trampelten die Männer und Ritter unablässig auf den Leichnamen herum.“ Die vorweggenommene Sündervergebung dürfte das Ihrige zu dieser entfesselten Barbarei beigetragen haben.
Drei Wochen nach dem Fall von Jerusalem schlugen die Kreuzfahrer auch noch ein großes ägyptisches Heer, was den Erfolg des ersten Kreuzzuges besiegelte: Das Heilige Land war in der Hand der christlichen Eroberer, die sich mit wechselnder Ausdehnung und wechselndem Erfolg bis zum Jahr 1303 dort festsetzten, eigene Staaten und Königreiche gründeten, auch schon mal gegeneinander Krieg führten und in solchen Fällen keineswegs davor zurückschreckten, sich mit muslimischen Herrschern gegen ihre christlichen Brüder zu verbünden. Philipps verweist auf die Ironie der Geschichte: Urban II. erlebte den Sieg des ersten Kreuzzuges selbst nicht mehr; er war am 29. Juli 1099 gestorben, als die Nachricht vom Fall Jerusalems Rom noch nicht erreicht hatte.
Ein verbreitetes Klischee besteht immer noch darin, die Kreuzzüge einerseits mit der hochmittelalterlichen Auseinandersetzung zwischen Christentum, insbesondere Römischer Kirche, und Islam sowie andererseits mit der „Befreiung“ und „Verteidigung“ des Heiligen Landes gegen die Muslime gleichzusetzen. Dabei spielte sich bereits der zweite Kreuzzug, der 1148 mit dem Versuch, auch Damaskus zu erobern, scheiterte, keineswegs nur im Nahen Osten ab. Es ging vielmehr auch gegen die „Heiden“ in Osteuropa – ebenfalls ein Misserfolg – und gegen die islamische Herrschaft in Spanien. Zumindest dort gelang es im Rahmen der Reconquista – sie galt zu jener Zeit „offiziell“ auch als Kreuzzug, obwohl sie bereits 718 begonnen hatte und im Übrigen erst 1492 mit dem Fall von Granada endete –, die Grenzen der Christenheit zu erweitern, wie es Philipps formuliert.
Die Kreuzzüge – und auch dazu gewährt das Buch umfassende Einblicke – beschränkten sich im Laufe ihrer Geschichte jedoch keineswegs auf die Auseinandersetzung mit dem Islam und mit „heidnischen“ Herrschern, um deren Reiche zu unterwerfen. Von der Römischen Mutterkirche „abtrünnige“ christliche Glaubensgemeinschaften wie die Katharer (auch Albigenser genannt) in Südfrankreich wurden ebenfalls Ziel eines Kreuzzuges (1209 – 1229). Und der vierte Kreuzzug (1202 – 1204) hatte sich gar gegen das Machtzentrum der griechisch-orthodoxen christlichen Schwesterkirche, gegen Konstantinopel, gerichtet und zur Eroberung und Plünderung der Stadt geführt. Eigentliches Ziel des Zuges war zwar die Eroberung Ägyptens gewesen, aber als die Zahl der sich in Italien versammelnden Kreuzfahrer weit unter den Erwartungen blieb, gaben die weltlichen Führer dem Unternehmen eine neue Zielrichtung – gegen den, wenn auch nicht besonders konsequent artikulierten Willen des damaligen Papstes Innozenz III., dessen „Reaktion auf die Nachricht von der Eroberung“ denn auch „sehr positiv“ ausfiel, wie Philipps vermerkt. Das Verhältnis der katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche ist durch diese Ereignisse bis heute belastet.
Von der Ironie der Geschichte war bereits die Rede, vom bisweilen offenbar eigenwilligen Humor Gottes soll sie anhand von zwei Episoden auch noch kurz sein. Kaiser Friedrich I. Barbarossa hatte bereits am vor Damaskus gescheiterten zweiten Kreuzzug teilgenommen und war daher mit den Gefahren und Erschwernisse des Landweges nach Kleinasien bestens vertraut. Beim dritten Kreuzzug führte er die vermutlich stärkste von insgesamt drei Streitmächten und wählte, obwohl ihn ein gutes Verhältnis mit Venedig verband, wo er eine Flotte hätte ordern können, wieder den Landweg. Philipps dazu: „Laut einer Quelle fürchtete Friedrich eine Prophezeiung, dass er im Wasser sterben werde […] Am 10. Juni 1190 wollte Friedrich den Fluss Saleph in Südkilikien durchqueren. Er rutschte unglücklich aus und ertrank.“
Die andere Episode betrifft den in seinem Denken und Handeln die übrigen Herrscher seiner Zeit weit in den Schatten stellenden, zugleich jedoch auch faszinierend ambivalenten Staufer-Kaiser Friedrich II., über den sein umstrittener Biograph Ernst Kantorowicz unter anderem äußerte: „Seines Glaubens wegen hat Friedrich II. niemanden verfolgt, denn er hatte vollauf zu tun, Rebellen und Ketzer wegen ihres Unglaubens zu verfolgen.“ (Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927) Kantorowicz hob damit darauf ab, dass dieser Friedrich der Religion wie auch der Kultur und den wissenschaftlichen Errungenschaften des islamischen Zivilisationskreises mit – dem Geist seiner Zeit diametral widersprechender – intellektueller Offenheit gegenüber stand. Papst Gregor IX. (1227 – 1241) hatte nicht zuletzt deswegen den Bann der Exkommunikation gegen den Kaiser verhängt, vor allem jedoch weil dieser das Kreuz zwar bereits im Jahre 1215 genommen hatte, aber auch zwölf Jahre später noch nicht ins Heilige Land aufgebrochen war. Der Papst sah in Friedrich daher den Schuldigen am Scheitern des fünften Kreuzzuges – und in der Exkommunikation zugleich einen Weg, eigene Machtansprüche auf Sizilien gegen den Staufer durchzusetzen. Der galt somit als abgesetzt und vogelfrei, als er 1228 vom italienischen Brindisi aus endlich in See stach. Doch Gott war offensichtlich nicht mit dem Papst, denn Friedrich II. gelang das Kabinettstück, die Übergabe Jerusalems und damit des Grabes Christi von den Muslimen auf diplomatischem Wege zu erreichen – im Rahmen eines zehnjährigen Waffenstillstandes, den er mit seinen muslimischen Gegnern aushandelte. Ab 1229 trug der Staufer daraufhin auch die Krone des Königreiches Jerusalem.
Denkmäler schleift Autor Jonathan Philipps in seiner Darstellung der Kreuzzüge zwar keine, aber er spart Fakten und Ereignisse auch nicht aus, die eine bis heute hier und da nachwirkende undifferenzierte Heldenverehrung zumindest in einem zweifelhaften Licht erscheinen lässt. Ausgerechnet Richard I. Löwenherz, „der berühmteste Krieger und König der englischen Geschichte“ (Philipps), diese Inkarnation des weisen, guten Herrschers und größter Ritterlichkeit in zahllosen Legenden, literarischen Darstellungen und Filmen, ließ als einer der Anführer des dritten Kreuzzuges am 20. August 1191, um seinen Gegner Saladin – den Rückeroberer Jerusalems (Oktober 1187) und einen der erfolgreichsten muslimischen Herrscher und Heerführer in der Kreuzzugsgeschichte – einzuschüchtern, in Sichtweite von dessen  Lager 2.700 Gefangene kaltblütig köpfen. „Die abstoßende Brutalität dieses Akts“, so Philipps, „zählt zu den umstrittensten Episoden der gesamten Kreuzfahrerära.“ – Eine anderer Nationalheros ist der Spanier El Cid (1043 – 1099). Mancher wird sich noch an das gleichnamige Hollywood-Epos erinnern – vielleicht nicht unbedingt wegen Charlton Heston in der Titelrolle, aber ganz bestimmt wegen der unvergleichlichen Sophia Loren als der Dame seines Herzens! Der historische Cid hatte zwar nicht am ersten Kreuzzug teilgenommen, wurde aber in Spanien als christlicher Held und als Vorbild für die Kreuzfahrer verehrt. Dazu hält Philipps lapidar fest, „dass El Cid ein gedungener Söldner gewesen war, der gelegentlich auch für muslimische Zahlmeister gekämpft hatte“.
Der Anfang der Kreuzzüge kann, wie erwähnt, quasi auf den Tag genau fixiert werden. Das Ende dieser Epoche wurde allerdings nie offiziell erklärt, weshalb es in der Geschichte etwas zerfasert. Walter Zöllner hatte das Jahr 1303 als chronologischen Schlusspunkt seiner Darstellung gewählt, weil die Templer – einer der maßgeblichen, die Kreuzzüge prägenden geistlichen Ritterorden – in jenem Jahr ihren letzten Stützpunkt auf der Insel Ruad nahe dem heutigen syrischen Tartus aufgaben und damit die ständige Präsenz der Kreuzfahrer im Vorderen Orient endete. Jonathan Philipps vermerkt diese Zäsur ebenfalls, fügt seiner Darstellung aber ein weiteres Kapitel militärischer Expeditionen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – unter anderem nach Ägypten (1365) – hinzu, für die er den Begriff Kreuzzüge allerdings in Anführungszeichen setzt. In einem abschließenden Kapitel unter der Überschrift „Moderne Kreuzfahrer? Von Sir Walter Scott bis Osama bin Laden und George W. Bush“ schlägt der Autor den Bogen bis in die Gegenwart.
Was eine Gesamtbewertung der Kreuzzüge anbetrifft, so zitiert Jonathan Philipps das vernichtende Urteil, das Sir Steven Runciman „in seiner enorm einflussreichen dreibändigen Geschichte der Kreuzzüge (erstmals veröffentlicht 1951 bis 1954 […])“ gefällt hatte: „[…] der Heilige Krieg selbst war nichts Anderes als ein langer Akt der Intoleranz im Namen Gottes, was eine Sünde gegen den Heiligen Geist ist“. Runciman bezeichnete die Kreuzzüge folgerichtig als „Werkzeug eines skrupellosen, westlichen Imperialismus“.
Nachdem eine Bewertung des Buches bereits eingangs gegeben wurde, soll ausgangs nur noch das Fazit des Rezensenten zu dessen Gegenstand angefügt werden: Unterwürfe die Kreuzzüge heutigen Maßstäben, wären sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu nennen.

Jonathan Philipps: Heiliger Krieg. Eine neue Geschichte der Kreuzzüge, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, 638 Seiten, 29,99 Euro