von Frank-Rainer Schurich
Das einzig Beständige im Leben ist der Zufall. Fritz Reuter hat das in seinem Roman „Seine Majestät Dörchläuchting“ etwas derb so umschrieben: „Jeder hat nun einmal einen Klotz am Bein, und der heißt ‚Zufall‘.“
Über Zufälle könnte man ganze Bände schreiben. Valeri Brjussow, der russische Symbolist, erzählt in seinem Buch „Der feurige Engel“ die Geschichte eines Mannes, dem ein Prophet gesagt hatte, ein Schimmel würde seinen Tod verschulden. Von diesem Zeitpunkt an mied er jegliche Pferde, nicht nur Schimmel, sondern auch Füchse, Rappen und Schecken. Schließlich starb er daran, dass auf ihn ein Schild niederfiel, auf dem ein Schimmel abgebildet war.
Der Zufall kann Gutes und Schlechtes anrichten. Militärisch gesehen ist der Zufall immer auf der Seite der stärkeren Bataillone (Honoré de Balzac), aber die stärkeren Bataillone müssen, wie die Geschichte lehrt, nicht immer die sein, die für eine gerechte Sache ausgezogen sind. Lew Tolstoi meinte, dass alles Gute meistens infolge von Zufällen eintritt, „je mehr man sich dagegen um etwas bemüht, umso schlechter gerät es“. Jeder hat gewiss schon einmal diese Erfahrung gemacht.
Wer sich am falschen Ort zu einer falschen Zeit aufhält, kann zufällig Opfer werden. Von Kriminalität oder von Unfällen. Wie Bruder Alfred in Wolfgang Kohlhaases gleichnamiger Erzählung, in der ein gewisser Barleben über seine Geschwister berichtet. „Sein Bruder Alfred hat nichts gesehen, kein Mädchen geliebt, kein Holz gesägt, kein Bier getrunken und nichts gestohlen, weil in einem schlimmen Augenblick, 1890, die Mutter für einen Sprung auf dem Hof war.“ Da ist Alfred, ein Jahr und sechs Monate alt, in den Waschkessel gefallen und ertrunken.
Aus der Kriminologie wissen wir, dass sich gemeine Taten von hundsgemeinen Missetätern verblüffend ähneln können, obwohl viele Jahre oder gar Jahrzehnte dazwischen liegen. So gibt es zahlreiche zufällige Übereinstimmungen bei den US-Präsidentenmorden an Lincoln (1865) und Kennedy (1963). Lincoln wurde im Ford-Theater angeschossen, und Kennedy saß zum Zeitpunkt des Attentats in einem Wagen der Marke „Ford Lincoln“. Beide wurden von Südstaatlern getötet, Nachfolger beider Präsidenten waren Südstaatler mit Namen Johnson, wobei Lincolns Nachfolger Andrew Johnson 1808 geboren wurde, Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson 1908. Und so weiter und so fort. Und obwohl diese Verbrechen uns heute noch außerordentlich tragisch erscheinen, heißen Berichte über solcherlei Zufälle oft „Das Komische in der Geschichte“, zum Beispiel bei Lothar Kusche in der Weltbühne, Heft 51/52 aus dem Jahre 1980.
Mörder kommen, wie alle Menschen, zufällig auf die Welt. Es hätte in der Menschheitsgeschichte viel Leid und Unheil verhindert werden können, wenn die Mörder gar nicht erst geboren würden. Ihnen rief vor langer Zeit Bertolt Brecht in seiner „Ballade von der Abenteurern“ die berechtigte Frage zu: „Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben / Wo es stille war und man schlief und war da?“
Bedeutsame zufällige Begegnungen treten auch wiederholt in der Kunstszene auf. Erwähnt werden muss die romantische Begegnung des vierzehnjährigen Wolfgang Amadeus Mozart mit dem gleichaltrigen Violinvirtuosen Thomas Linley in Florenz im Frühling 1770, aus der eine kurze und intensive Freundschaft entsprang. „Zwei halbwüchsige Wunderkinder, die sich mächtig zueinander hingezogen fühlten; beide ‚früh dem Tod geweiht!‘, eine poetische Konstellation des Zufalls, und als solche ein für alle Nachwelt glückliches Ereignis“ (Wolfgang Hildesheimer in seinem „Mozart“). Linley war von „aristokratischer, beinah ätherischer Schönheit“ (Hildesheimer) und starb 1778 im Alter von 22 Jahren. Mozart folgte ihm 1791 im Alter von 35 Jahren.
Aus Kriminalfilmen und -romanen, aus Tatsachenberichten und aus der Wirklichkeit kennen wir den berühmtesten aller Kommissare, den Kommissar Zufall. Im Zuge der Ermittlungen um die Entführung des Brauereimillionärs Alfred Heineken und seines Fahrers Ab Doderer 1983 erhielt die Polizei um die 750 Hinweise. Alle ziemlich unbestimmt und eigentlich ohne größeren polizeilichen Wert. Eine Information wies auf ein chinesisches Restaurant, in dem Tag für Tag zwei Essen bestellt und abgeholt würden, und der Abholer benehme sich „auffallend vorsichtig“. Die Amsterdamer Polizei in Gestalt von zehn Beamten folgte dem Abholer unauffällig. Der Weg führte zu einem Wellblechschuppen. Als der Mann dann wieder weg war, konnten die Polizisten aber nichts Verdächtiges feststellen. Doch dem Polizeiinspektor Geert van Beek kam dieses Ermittlungsergebnis seltsam vor, und er konnte, welch ein Zufall!, Hohlräume mit Betonwänden entdecken, in denen der Millionär und sein Fahrer, jeweils schalldicht und isoliert voneinander, mitten im kalten Winter angekettet saßen und froren.
Der deutschsprachige Romancier, Dramatiker und Essayist Elias Canetti schrieb: „Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst – aber vom Zufall des Gelesenen hängt ab, was du bist.“ Das ist wahr, doch der große Meister und Nobelpreisträger (1981) könnte noch durch einen weiteren wahren Satz sehr folgenreich ergänzt werden: Wie wenig Menschen zu kennen gelernt hast in deinem Leben, wie wenig du kennst – aber vom Zufall dieser Zusammentreffen hängt ab, was du bist.
„Alles Unglück der Welt rührt daher, dass die Menschen nicht in ihren Wohnungen bleiben“, hat der geniale französische Philosoph und Mathematiker des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal geschrieben. Man sollte trotzdem seine Wohnung regelmäßig verlassen und neue Menschen kennen lernen. Denn der Zufall macht nicht nur Geschichte, ist nicht nur ein exzellenter Kommissar, sondern er hilft auch, dass wir uns jeden Tag neu erfinden können.
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Kommissar, Zufall