15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Richard Müllers Geschichte der Novemberrevolution

von Rainer Knirsch

Hier soll von einem Werk die Rede sein, das bereits vor 90 Jahren verfasst wurde, bis heute indes nichts an Aktualität verloren hat: „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“ und „Der Bürgerkrieg in Deutschland“ sind die drei Bände überschrieben, die 1924/25 erschienen waren. 1973/74 wurden sie vom Verlag Olle & Wolter nachgedruckt. Inzwischen sind diese Exemplare nur noch vereinzelt in Antiquariaten für 100 bis 150 Euro zu finden. Richard Müllers Revolutionsgeschichte war zwischen der einerseits SPD- und andererseits KPD-geprägten Geschichtsschreibung in der Versenkung verschwunden und fast verloren gegangen, dabei ist sie im Grunde ein wieder zu entdeckendes Standardwerk. Es ergänzt und korrigiert einiges in den offiziösen Darstellungen der beiden Arbeiterparteien und schärft damit nicht nur den Blick auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart. Darum haben Ralf Hoffrogge, Historiker und Autor der Müller-Biographie „Der Mann hinter der Novemberrevolution“ (Karl Dietz Verlag, 2008), und Jochen Gester, verantwortlich für das Medienportal Die Buchmacherei (www.DieBuchmacherei.de), sowie der Autor dieser Zeilen als Lektor, Müllers historische Trilogie in einem Band neu herausgebracht.
Wer war dieser Richard Müller? Zwischen 1916 und 1921 zählte der Gewerkschafter zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaft war seine Heimat, sein Freundeskreis, seine politische Identität. Im Deutschen Metallarbeiter-Verband, seinerzeit die größte Gewerkschaft der Welt, galt er als der Anführer des linken Flügels. Er hatte die großen Berliner Massenstreiks der Jahre 1916 bis 1918 illegal organisiert. In der Revolutionsregierung 1918 war Müller Vorsitzender des „Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte“, des ranghöchsten Räteorgans, und verteidigte die politischen Ideale einer sozialistischen Gewerkschaftsbewegung. Die „Revolutionären Obleute“ der Betriebe waren ein Ergebnis seines Organisationstalents, ein Musterbeispiel für die Verbindung von – unter den Bedingungen des Krieges notwendiger – Geheimhaltung und Masseneinfluss. Ihr politischer Kurs war trotz aller Radikalität pragmatisch. Sie handelten diszipliniert und geschlossen, gaben ihre Unabhängigkeit nie auf.
Richard Müllers „Novemberrevolution“ ist gewissermaßen Geschichte „von unten“. Müller hat sie als Zeitzeuge verfasst, er schildert authentisch die Rolle von SPD, Spartakusbund, USPD und KPD in jenen revolutionären Zeiten. Müller erzählt keine Anekdoten, sondern unterbreitet Einschätzungen und Dokumente, die es den Lesern erlauben, sich ein eigenes Bild von den geschilderten Vorgängen zu machen. Dabei stützt er sich auf einen großen Fundus von Originalquellen, darunter vielfach zum ersten Mal veröffentlichte Aufrufe und Flugblätter, vor allem auf die einzig erhaltenen kompletten Abschriften der Protokolle des Berliner „Vollzugsrates“, die nur durch Richard Müllers Einsatz für die Nachwelt gerettet wurden.
Deutschland 1918/19: Räteverfassung? Wirtschaftliche Demokratie auf Basis von Betriebsräten, in der die Arbeitenden selbst über Produktion und Politik entscheiden? Alles schien möglich. Die Krise heute eröffnet eine neue gewerkschaftliche Debatte um diese Alternativen: Ob der Räte-Gedanke die Entwicklung der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung befruchten kann, stellt sich als Frage nicht nur Betriebs-, Personal- und Aufsichtsräten. Es ist ein aktuelles gesellschaftliches Thema, behandelt zum Beispiel in Manfred Sohns Buch „Der dritte Anlauf. Alle Macht den Räten“ (PapyRossa Verlag, Köln 2012), oder in „Jenseits des Kapitalismus – Grundrisse einer libertären und solidarischen Gesellschaft“ von Gerhard Stange (in „Die Aktion“ Nr. 219, Edition Nautilus, 2011).
Was also sagt uns Richard Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, eine marxistische Analyse der Revolution 1918/19 gegen Krieg und Kaiser, für eine sozialistische Republik, die durch einen Bürgerkrieg von rechts letztlich zum Faschismus führte? Mit historischen Belegen weist Müller akribisch nach, dass es keinen Bürgerkrieg von links gab, sondern dass dieser Bürgerkrieg samt Terror und Mord von rechts geführt wurde, womit sich über 90 Jahre später ein aktueller Bezug zum faschistischen Terror bei staatlicher „Blindheit“ herstellt, der vom Münchener Oktoberfest 1980 bis zu den neonazistischen Anschlägen, Raubüberfällen und Morden in den letzten Jahren reicht.
Nach dem Erscheinen der Neuausgabe im Oktober 2011 war die erste Auflage des Müllerschen Werkes von bescheidenen 200 Exemplaren bereits nach wenigen Tagen vergriffen. Vorsichtig wurde es in Hunderter-Schritten nachgedruckt, und im März 2012 erschien nun die um eine Chronologie und ein Personenregister erweitere 5. Auflage in einem Band; spannend zu lesen wie ein Krimi.

Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution, Die Buchmacherei, Berlin 2011, 5. Auflage der erweiterten Neuausgabe, 790 Seiten, 22,95 Euro