von Edgar Benkwitz
In Indien gibt es wie auch in Deutschland im Sommer Parlamentsferien. Kabinett und Abgeordnete tagen nicht, die Politiker sind im Urlaub oder auf Auslandsreise. Jeder möchte der glühenden Hitze in der Hauptstadt entrinnen. In dieser angeblich politisch armen Zeit treiben die Medien ihr Spielchen: Das Sommerloch wird bedient, bestimmte Themen werden lanciert und hochgejubelt, bis sie in sich zusammenfallen. In diesem Jahr – auch wie in Deutschland – ist aber alles anders. Die Politik kommt nicht zur Ruhe. Drängende innenpolitische Fragen nicht minder als internationale Probleme fordern Antworten und Lösungen. Somit haben die Medien ihre echten Themen, das gefürchtete Sommerloch fällt quasi aus.
Seit langem stand fest, dass am 19. Juli in Indien ein neuer Staatspräsident gewählt würde. Die Amtszeit des bisherigen lief aus, und so musste sich gemäß Verfassung das so genannte Wahlmännerkollegium im ehrwürdigen indischen Parlamentsgebäude versammeln. Dieses Gremium umfasst 4.896 Mitglieder, davon gehören 776 dem Zentralparlament (das ist das komplette Unter- und Oberhaus) sowie 4.120 den Parlamenten der 28 Bundesstaaten (plus zwei Unionsterritorien) an. Diese Prozedur ist ein Schauspiel ohnegleichen, das es so nur alle fünf Jahre gibt: An einem einzigen Tag begegnen sich alle gewählten Vertreter der Unions- und der Länderebene aus ganz Indien mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern an der Wahlurne!
Voller Spannung waren auch die letzten Wochen vor der Wahl. Es gab zwar wenig Zweifel, dass der Kandidat der Regierungskoalition – mit der Kongresspartei als maßgeblicher Kraft – die meisten Stimmen erhalten würde. Aber dieser Kandidat musste konsensfähig sein, und zwar in der Partei selbst wie auch bei den Verbündeten aus den großen Regionalparteien. Zusätzlich sollte er noch die Zustimmung anderer Parteien erhalten. Nach schier endlosen Konsultationen einigte man sich schließlich auf den gegenwärtigen Finanzminister, den 76-jährigen Pranab Mukherjee, der seine ersten bedeutenden Ämter bereits vor Jahrzehnten noch unter Indira Gandhi ausgeübt hatte. Seine Kandidatur wurde sogar von Parteien wie der Kommunistischen Partei (Marxisten) und der bombaystämmigen nationalistischen Shiv Sena unterstützt.
Beobachter meinen, dass Mukherjee von seinem einflussreichen Posten als Finanzminister weggelobt wurde. In der Tat hatte er in den letzten beiden Jahren keine glückliche Hand bei der Gestaltung seines Aufgabengebietes. Doch ihn für die zugespitzten Probleme des Landes verantwortlich zu machen, ist sicherlich verfehlt. Zutreffender scheint zu sein, dass die Führung der Kongresspartei – und hier besonders die Familie Gandhi – einen ihrer Getreuen in das höchste Amt des Staates lancieren wollte. Er könnte bei bevorstehenden politischen Weichenstellungen eine bedeutende Rolle spielen.
Pranab Mukherjee erhielt knapp 70 Prozent der Stimmen und ist damit der 13. Präsident Indiens. Sein einziger ernstzunehmender Gegner, der von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) unterstützte P. A. Sangma hatte dagegen keine Chance. Auch dass er als Stammesangehöriger einer ethnischen Minderheit angehört und zudem Christ ist – das wäre ein Novum für einen Präsidenten Indiens – halfen ihm nicht. Verwunderlich ist allerdings, dass er sich als Minderheiten-Angehöriger mit einer dem Hindu-Nationalismus verschriebenen Partei verband. Besonders bitter für ihn, dass alle Wahlmänner aus seiner Heimat, den nordöstlichen Bundesstaaten, nicht für ihn stimmten.
Pranab Mukherjee, der neue Präsident, ist Bengale. Und ausgerechnet eine Landsmännin von ihm, Mamata Banerjee, Ministerpräsidentin Westbengalens und mit ihrer Partei der wichtigste Bündnispartner der Kongresspartei in der Zentralregierung, arbeitete mit aller Kraft gegen ihn. Es gibt offensichtlich alte, nicht beglichene Rechnungen zwischen den beiden Politikern. Mamata hatte sich als aufstrebende Politikerin der Kongresspartei vor 15 Jahren von dieser Partei getrennt und war erfolgreich eigene Wege gegangen. Doch jetzt hätte sie sich fast zwischen zwei Stühle gesetzt. Denn die Bengalen sind stolz, dass einer der ihren nun Präsident des Landes ist. Erst als einflussreiche Gefolgsleute sich offen gegen Mamata stellten und für Mukherjee eintraten, lenkte sie zähneknirschend ein. Dabei qualifizierte sie Mukherjee als „ zweite Wahl“ ab, dem sie nur unter Koalitionszwang ihre Stimme gegeben hätte.
Eine viel geschicktere Rolle spielte der Ministerpräsident von Uttar Pradesh, Akilesh Yadav. Er hatte mit seiner Samajwadi Partei im Frühjahr dort die Landtagswahlen gewonnen und der Kongresspartei ein Wahldebakel bereitet. Für den Kandidaten aus Delhi legte er sich erst eindeutig fest, nachdem ein großes finanzielles Hilfspaket für seinen Staat zugesagt worden war.
Im Schatten dieses Gerangels standen jedoch Entscheidungen, die sich als politisch bedeutender erweisen könnten als die gerade stattgefundene Wahl des neuen Staatsoberhaupts. Es geht um die politische Zukunft von Rahul Gandhi, Sohn von Rajiv und Sonja Gandhi, Enkel von Indira Gandhi. Für diesen politisch fähigsten Spross der Nehru-Gandhi-Familie, er ist erst 42 Jahre alt, werden in diesen Tagen die Weichen als Kandidat der Kongresspartei bei den Parlamentswahlen 2014 gestellt.
Begonnen hatte es mit taktischen Manövern, wobei das timing – zeitgleich mit der Präsidentenwahl – geschickt gewählt wurde. Unmittelbar nach dem Rücktritt von Pranab Mukherjee als Finanzminister erklärten zwei angesehene Funktionsträger der Kongresspartei, dass die Zeit für Rahul Gandhi gekommen sei, eine wichtigere Rolle in der indischen Politik zu spielen. Nur wenige Tage später äußerte die Vorsitzende der Partei, Sonja Gandhi, dass das einzig und allein Rahul selbst entscheiden müsse. Und prompt fing ihr Sohn einen Tag später – am Tag der Präsidentenwahl – den ihm zugeworfenen Ball auf und erklärte: „Ich möchte eine aktivere Rolle in der Partei und der Regierung spielen. Die Entscheidung ist gefallen, den Zeitpunkt dafür entscheiden meine zwei Bosse“ (Sonja Gandhi als Parteivorsitzende, Manmohan Singh als Premierminister – Anmerkung E.B.).
Es sei daran erinnert, dass sich Rahul Gandhi erst seit acht Jahren in der Politik betätigt. In das Parlament wurde er 2009 gewählt. Er ist einer der Generalsekretäre der Partei und Chef ihrer Jugend- und Studentenorganisation. Wiederholte Angebote, in der Regierung einen Ministerposten zu übernehmen, lehnte er ab, widmete sich vielmehr der Parteiarbeit. Trotz großen persönlichen Einsatzes – zuletzt bei den Wahlen in Uttar Pradesh – blieben aber durchschlagende Erfolge für die Partei aus. Es schien sogar, dass sein aufgehender Stern schon im Sinken begriffen ist.
Nun ist klar, dass er in nächster Zeit Mitglied der Regierung wird. Das wird wahrscheinlich Anfang September sein, dann wird eine grössere Regierungsumbildung erwartet. Dabei dürfte das Portfolio nicht die entscheidende Rolle spielen, denn Rahul Gandhi wird vor allem Erfahrung in der Regierungsarbeit sammeln wollen. Erfahrene Parteifunktionäre wie Manmohan Singh oder Sonja Gandhi werden dabei gute Ratgeber sein. Und an der Spitze des Staates steht mit dem neuen Präsidenten Pranab Mukherjee ein stets loyaler Freund der Familie, der seine schützende Hand über Rahul halten kann.
Indien begeht am 15. August den 65. Jahrestag der Unabhängigkeit. Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des neuen Indien, würde gewiss Gefallen daran haben, dass mit Urenkel Rahul erneut ein Spross seiner Familie angetreten ist, in seine Fußstapfen zu treten.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Jawaharlal Nehru, Kongresspartei, Rahul Gandhi, Rajiv, Sonja Gandhi