15. Jahrgang | Nummer 17 | 20. August 2012

Geschichte einer Gefangenschaft

von Reiner Oschmann

Es ist Wahlkampf, da zeigt sich die Krankheit noch giftiger. Die einen heißen ihn einen Gottlosen, andere einen Nazi. Manche erkennen in ihm einen Mann mit „kenianisch antikolonialer Weltsicht“, jeder sechste Wähler noch immer einen im Ausland geborenen Moslem. Die meisten nennen Barack Obama (51) einfach „einen Sozialisten“. Nur eines wird dem 44. Präsidenten von vorwiegend weißen Landsleuten fast nie bescheinigt: dass er – wie der Kolumnist E. J. Dionne jr. schreibt – „ein normaler Amerikaner ist, der Basketball und Golf spielt, ein bemerkenswert altmodisches Familienleben führt und durch gute Bildung vorankam, wie wir sie unseren Kindern stets ans Herz legen“. Stattdessen höre er auch heute „nicht auf, Gegenstand der tollsten paranoiden Fantasien zu sein. Ein beachtlicher Teil seiner Gegner kann nicht schlucken, dass Obama ein recht gemäßigter Politiker und in seinen Neigungen und Interessen ziemlich konventionell ist“.
Beides, Obamas Unerwünschtheit und seine Übereinstimmung mit Menschen wie du und ich, drängt sich beim Lesen eines Buches auf, das kurz nach Erscheinen zum Bestseller wurde. Die Obamas selbst sollen es heftig kritisiert haben, weil es in wichtigen Punkten nicht zutreffe. Es kommt oft vor, dass der Gegenstand einer biografischen Begierde seinem Betrachter mangelnden Einblick, Ahnungslosigkeit gar vorwirft, und mitunter mag das sogar stimmen. Manchmal ist es aber auch bloß Unbehagen darüber, erkannt worden zu sein. Ein solcher Fall könnte hier vorliegen.
Das Buch „Die Obamas“ von Jodi Kantor ist aufwendig recherchiert. Das anhaltende und mit vielen Enttäuschungen eingetrübte Interesse für den ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten findet mit dem Buch ein lohnendes Angebot. Jodi Kantor, Amerikanerin mit polnischen Wurzeln, ist Hauptstadtkorrespondentin der New York Times. Sie sammelte Interviews von mehreren Hundert Stunden, sprach mit Barack und Michelle Obama sowie mit über 200 Personen aus beider Umgebung – 33 derzeitigen und früheren Mitarbeitern im Weißen Haus, Kabinettsmitgliedern und Verwandten, einstigen Nachbarn, Beratern und engen Freunden.
Daraus entstand lesenswerte Publizistik und ein Puzzle, dessen Gesamtbild mehr offenbart als allein die Summe seiner Teile. Der Leser erfährt in erster Linie nicht Einzelheiten wie die Schuhgröße der First Lady (41), Baracks Versprechen an seine Frau, im Fall einer Kandidatur das Rauchen aufzugeben oder ein gewisses Händchen für Basketball. Das auch, davon lebt ein solches Buch. Doch es gibt belangvollere Einblicke. Sie vermitteln den Geist des Ortes Weißes Haus und in ihrer Verknüpfung die Spielräume des US-Präsidenten allgemein und des ersten schwarzen im Besonderen. Beide Aspekte erscheinen am Ende wichtiger als die von Kantor stark herausgestellte Wandlung der Rolle Michelle Obamas vom Aschenputtel im Ostflügel des Weißen Hauses zur maßgebenden Vertrauten ihres Mannes und seiner Berater im politisch gewichtigeren West Wing. So unterschiedlich die Gaben der First Ladies waren – ihr jeweiliger Einfluss auf den Präsidenten war immer größer als der Umstand nahe legt, dass sie weder gewählt noch ihre Rolle bestimmt ist.
Das Weiße Haus ist mehr als eine Immobilie. Es ist Büro, Wohnhaus und Nationalmuseum in einem – und für die First Family ohne privaten Zugang. Allein der Akt, ein Haus zu verlassen, das täglich von Tausenden Touristen heimgesucht wird, ist für sie ein Problem. Für dessen Lösung tritt jedes Mal der Geheimdienst in Aktion. Das Haus beherbergt auf sechs Etagen 132 Räume und 3 Aufzüge. Das alles, so Kantor, „für einen Mann, der nie ein Herrscher gewesen war, und eine Art Festung für eine First Lady, die immer stolz darauf war, dass sie nach ihrem Studium an den Eliteuniversitäten Princeton, Harvard und ihrer Arbeit bei Sidley Austin in die arme South Side von Chicago zurückgekehrt war.“
Hinzukommt die in den Mauern eingebrannte Geschichte. Mit dem Einzug der Obamas wurde sie beispiellos in Erinnerung gerufen: Das Weiße Haus wurde großenteils von schwarzen Sklaven gebaut. Mehrere Präsidenten brachten ihre Sklaven mit, und der Name des Gebäudes ist damit verbunden. Kantor: „Als Theodore Roosevelt 1901 den schwarzen Sozialreformer Booker T. Washington zu einem Dinner einlud, war der öffentliche Aufschrei so gewaltig, dass Roosevelt das Gebäude offiziell von ‚The Executive Mansion’ in ‚The White House’ umbenannte. Bis zu Kennedys Präsidentschaft hat es dort noch nicht einmal schwarze Personenschützer gegeben.“ Solche Details vermitteln eine Ahnung von dem psychologischen Beben, den Wahl und Einzug Obamas für Amerikaner noch im 21. Jahrhundert bedeutet haben mag. Doch das Weiße Haus ist Symbol nicht nur für die Isolation eines Präsidenten vom Volk – die hat er mit den meisten Amtssitzen in den allermeisten Ländern gemein. Eine golden versüßte Isolationshaft verkörpert das Weiße Haus allzu oft auch in der Frage nach Macht oder Ohnmacht des angeblich mächtigsten Amtes der Welt.
Wer diesbezüglich sich dem schönen Schein hingeben will, dem sei das Buch ebenfalls empfohlen. „Die Obamas“ ist in der Bündelung seiner Beobachtungen das Tagebuch einer großen Gefangenschaft in einer nicht minder großen Illusion. Oder, wie Kantor Obamas Hoffnung auf wirklichen Wandel in den USA bilanziert: „Der Präsident lebte zunehmend mit dem Gefühl politischer Machtlosigkeit, während die First Lady unter ihrer persönlichen Machtlosigkeit litt.“ Wenige Wochen vor der nächsten Wahl, die Obama eine zweite Amtszeit bringen soll, weiß man, wie sehr sein Fremdeln im Amt gewachsen und wie groß die Erkenntnis um seine begrenzte Macht geworden ist. Wenn er dennoch um weitere vier Jahre kämpft, dann, weil die Angst, Präsident nur für eine Periode zu werden, noch größer ist als die Sorge, in den kommenden Jahren zu bestätigen, was die ersten offenbaren: dass Barack Obama ein nachdenklicher, intelligenter und zaghafter Zentrist ist, über den jene nicht den Schlaf zu verlieren brauchen, die zwar nicht gewählt, aber mächtiger sind als das Aushängeschild in Amerikas Schaufenster.

Jodi Kantor: Die Obamas. Ein öffentliches Leben, Droemer, München 2012, 415 S., 19,99 Euro