15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Die „Systemfrage“ heute

von Gerhard Burow

Eine Gesellschaft wird weitgehend durch ihr Wirtschaftssystem bestimmt. Die global arbeitsteilig verbundenen Volkswirtschaften dieser Erde funktionieren uniform nach kapita­listischen Distributions- und Zirkulationsbedingungen. Kapitalistische Markt­wirtschaft ist das tragende Wirtschaftskonzept.
Wichtig hierbei ist die Aufspaltung des System­gedan­kens in die Komponenten „Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“. Marktwirtschaft ist ein Systemgeflecht von Strukturen, die die Aktivitäten der Menschen beeinflussen. Dazu sind politische sowie ökonomische Hierarchien und Grundwerte nötig. Sie charakterisieren das jeweilige politökonomische System. Der Begriff „Marktwirtschaft“ ist also ein Oberbegriff für verschie­dene bekannte, politökonomisch unterschiedliche Wirtschaftssysteme, wie Kapitalismus, Sozialismus und der noch nicht probierte Kommunismus.
In diverser Literatur wird die Marktwirtschaft lediglich in „Freie“ oder „Soziale“ Marktwirtschaft unterschieden. Der politökonomische Hintergrund ist hierbei ausgeklammert.
Der moderne Kapitalismus nach anglikanischer Prägung, in dem nur noch die Spielregeln des Geldkapitals anerkannt sind, hat zum Rückbau der sozialen Marktwirt­schaft in Deutschland beigetragen. Aus der Spekulation resultierende Gut­ha­ben verbleiben als inflationäre Masse in der so genannten Finanzindustrie. Ihre un­kon­trollierte Aufblähung ist als systemische Fehlfunktion eingebaut und führt zwingend zu globa­ler Hyperinflation. Verbunden damit ist die unge­bremste Flucht in Werte, wie Rohstoffe, Energieträger, Agrarerzeug­nisse, Immobilien, Gold und andere, was automatisch ganze Volkswirtschaften in einen deflatio­nären Strudel zwingt.
Geldkapital hat sich aus der Wirkung nichtlinearer Zins- und Zinseszinsprozesse in einem Zeit­raum von circa 60 Jahren in der Zirkulationssphäre verselbstständigt. Im Finanzsystem spielen realwirtschaft­liche Prozesse nur noch eine Nebenrolle, außer sie können zu spekulativen Blasen genutzt wer­den. Geld wird auf den Computern der Privatbanken täglich in Milliardenhöhe ohne jede realwirt­schaftliche Bindung geschöpft. Damit liegt weltweit Hyperinflation vor, wenn mehr Geld existiert, als alle Volkswirtschaften der Erde zusammen materielle Produkte dagegenstellen können.
An den Börsen konzentrieren sich Typen von Menschen, die dem Spielfieber erlegen sind. Ihre Triebkraft ist Gier. Damit ist zugleich die Geißel des Geldes identifiziert: Es weckt eine psychologische Komponente im Menschen, das Giersyndrom. Aus ihm leiten sich gruppenneurotische Fehlhaltungen der Wirtschaftseliten und Politiker ab, die den Gemeinwohlauftrag der Gesell­schaft konterkarieren. Die Betroffenen haben dabei kein Unrechtsbewusstsein!
Die kapitalistische Marktwirt­schaft im heutigen finalen Stadium mit der über die Computer möglich gewordenen unbegrenzten Geldvermehrung ist das ideale Realisierungsfeld des Giersyndroms. Eine Wertbindung des Geldes ist nicht mehr nötig, da es lediglich eine Information über Zahlen ist. Buchgeld gibt nur noch theoretisch Auskunft darüber, wie hoch die jewei­ligen Konsumtions- und Investitionsmöglichkeiten sind. Bargeld wird für die heutigen Tauschprozesse praktisch nicht mehr gebraucht, so dass im eigentlichen Sinne auch kein Geldumlauf mehr stattfindet. Geld entsteht und vergeht durch Bedienung der Compu­tertastatur. Was als Geldumlauf deklariert wird, ist lediglich Information über Geldkapital, sofern es in den Wirtschaftskreislauf eingreifen soll. Bleibt es einfach nur eine Zahl im PC, ist Geld nur noch Infor­mation. Einzig der Bargeldbestand bleibt tatsächliches Geld im realen Umlauf.
Dieser Wandel des Geldcharakters im Zeitalter der Mikrochip-basierten industriellen Revolution be­schleunigt die Agonie des Kapitalismus, indem seine Antagonismen ausbrechen und in ihrer Wirkung folgendermaßen verschärft werden: Geld entzieht sich dem vollständigen Umschlag über die Reproduktionsebenen. Als Kapital vermehrt es sich ungehemmt in der Zirkulationssphäre. Da es immer noch Warenform hat, wird die Realwirtschaft durch spekulative Preisverzerrungen in Mitleidenschaft gezogen, die ihrerseits an den Börsen der Welt generiert werden. Damit verbunden sind soziale Deformationen in den Nationalstaaten und eine enorme Belastung der Staatshaushalte durch Verschuldungen. Geldkapital hat überdies den Staatshaushalt als Renditequelle entdeckt hat und trägt zielgerichtet zur Ruinierung der Staaten bei.
Durch Renditediktate des eingesetzten Geldkapitals sowie als Ergebnis des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wird menschliche Arbeit zum Teil endgültig aus den Wertschöpfungs­ketten verdrängt. Alternative Arbeit im „unproduktiven“ Bereich kann die Freisetzung nicht kom­pensieren, da dort Arbeit nur zu prekären Einkommen oder mittels Aufstockung aus dem Staatshaushalt als genügend gewinnträchtig angeboten werden kann. Der Mensch wird als Humankapital definiert und ist somit als Ware in den Markt integriert. Das Geldkapital hat den Staat in die Rolle als massenhaften Einkommensgeber für abhängig Beschäftigte entdeckt, was die Ruinierung der sozialen Systeme zusätzlich beschleunigt.
Die enorm hohe Produktivität in den entwickelten Volkswirtschaften der Erde ist ein Ergebnis der menschlichen Kreativität. Damit verbunden ist ein Wandel der Hauptproduktiv­kräfte. Kapitalisierbare frühere Formen der Produktivkräfte, wie zum Beispiel Dampftechnik, Elektroenergie, Atom­kraft haben an Bedeutung gegenüber der Information stark eingebüßt. Informationen sind imma­terielle Bausteine der menschlichen Kreativität. Sie können nur durch intelligente Arbeit des Menschen ihre Wirkung erlangen.
Intelligenz und Information als immaterielle Produktivkräfte werden potenziell durch alle Menschen der Erde getragen. Ihre Möglichkeiten können sich nur dann voll entfalten, wenn gemeinwohlbasierte Gesellschaftsstruk­turen die dafür erforderlichen Lebensbedingungen sichern.
Die modernen Produktiv­kräfte entziehen sich außerdem in ihrer entmateria­lisierten Form der privaten Aneig­nung als Kapital. Wenn die Hauptproduktivkräfte in der kapitalistischen Marktwirtschaft aber als Kapital nicht mehr privat aneignungsfähig sind, wird der Kapitalismus als solcher in Frage gestellt.
Kapitalverwertung leitet sich aus dem Ziel privater Renditeaneignung ab, so dass  heute alle menschlichen Tätigkeitsfelder einer „Durchkapita­lisierung“ zum Zwecke unbegrenzter Geldvermehrung ausgesetzt sind. Das führt automatisch zum Widerspruch mit der begrenzten Natur dieser Erde. Die menschliche Po­pulation vermehrt sich weiter. Damit ist der globalen kapitalistischen Marktwirtschaft ein permanentes eklatantes Verteilungsproblem entstanden. Darüber hinaus werden wichtige realwirtschaftliche Grundaufgaben der menschlichen Basisversor­gung aus Renditegründen vernachlässigt (Energie-, Wasser-, Infrastruktursicherung), und die Absicherung der Lebensfähigkeit der anwachsenden Menschheit durch intelligente Kreativität und eine zügi­ge Erschließung des Weltraums werden gar nicht erst in Angriff genommen.
Die Systemfrage zum Kapitalismus ist daher zwingend zu stellen und ist fokussiert auf eine Änderung der Distributionsverhältnisse. Das fängt mit der Rolle des Geldes an! Als Alternative bietet sich eine gemeinwohlbasierte Gesellschaft an.

Wird fortgesetzt.