von Frank-Rainer Schurich
Es ist eine wahnsinnig spannende Geschichte aus Liebe und Eifersucht, aus seelischer Erschütterung und jugendlichem Übermut, aus romantischer Verklärung und Weltschmerz. Es ist eine Geschichte, die erzählt von einer verheuchelten sittlichen Fassade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, von konventioneller Scheinmoral und von lebensfeindlicher Starrheit einer Gesellschaft, wie sie auch Frank Wedekind 1891 in seiner Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ zu anderen Zeiten erzählt hat.
Vor 85 Jahren, in den Morgenstunden des 28. Juni 1927, spielte sich in der Steglitzer Hochparterre-Wohnung des Kaufmanns Otto Scheller an der Albrechtstraße 72 C in Berlin ein fürchterliches Drama ab, bei dem der Oberprimaner Günther Scheller und der Kochlehrling Hans Stephan aus Friedenau starben. Die Kriminalpolizei fand die beiden Jugendlichen tot im Schlafzimmer der Schellers vor und ging zunächst davon aus, dass Günther Scheller den verhassten Kochlehrling und sich dann selbst erschossen hatte. Doch nach siebenmonatiger (!) Voruntersuchung kam die Staatsanwaltschaft zum Schluss, dass der achtzehnjährige Oberprimaner der Oberrealschule Berlin-Mariendorf (seit 1930 Eckener-Oberrealschule) Paul Krantz (1909–1983), ein Mitschüler von Günther Scheller, der in der Wohnung zur fraglichen Zeit anwesend war, mit größter Wahrscheinlichkeit der Mörder sei. Also erhob sie Anklage, und es kam im Februar 1928 vor dem Schwurgericht am Landgericht Berlin II in Moabit zum Aufsehen erregenden Prozess gegen Paul Krantz wegen zweifachen Mordes, der Verabredung zum Mord und des verbotenen Waffenbesitzes. Ihm drohte die Todesstrafe.
Die verträumte Landgemeinde Steglitz, als Vorort von Berlin ursprünglich im Kreis Teltow des preußischen Regierungsbezirkes Potsdam gelegen, war erst 1920 ein Stadtteil von Groß-Berlin und nun durch diese Bluttat weltberühmt geworden. Sogar Korrespondenten aus Japan hatten sich zum Prozess in Moabit eingefunden, Reporter aus vielen Ländern saßen dicht gedrängt im Gerichtssaal und wollten den wohl bekanntesten Kriminalfall der Weimarer Republik live erleben.
Paul Krantz, aus armen Verhältnissen kommend, wohnte in Berlin-Mariendorf und fiel schon frühzeitig als besonders intelligent und kreativ auf. In der Volksschule galt er als „ungewöhnlich begabt“, so dass er 1919 ausersehen wurde, „als Renommierstück der Volksschule eines der ersten Versuchskaninchen der neuartigen Begabtenförderung zu werden“ – wie er in seinem Buch „Erinnerungen eines Deutschen“ aus dem Jahre 1971 schreibt. Es wurde scharf gesiebt, denn der eigentliche Zweck bestand ja darin, den Zustrom der Proletenkinder auf ein absolutes Minimum einzudämmen.
Bis zum Juni 1927 hielt es Paul Krantz trotz aller Schikanen, vor allen Dingen der Mitschüler aus der besseren Gesellschaft, an der Oberrealschule aus – mit ausgezeichneten Leistungen und Schulgeldbefreiung. Er machte dort die Bekanntschaft mit dem Schüler Günther Scheller und später zu dessen Schwester Hildegard, mit Spitznamen Männe, die auch aus einem begüterten Kaufmannshaus stammten. So tauchte Paul Krantz in eine ihm eigentlich fremde Welt ein.
Das Ehepaar Scheller befand sich mit der siebenjährigen Tochter auf einer Geschäftsreise in Stockholm und hatte in seiner Sommerwohnung in Mahlow in Süden Berlins ihren Sohn Günther und Paul Krantz zurückgelassen, während Hildegard in Berlin verblieb. Hildegard fuhr dann auch nach Mahlow, wo Günther ihr „den begabten Dichter“ Paul vorstellte. Paul und Hildegard verbrachten eine Liebesnacht auf der Scheller’schen Sommerresidenz, zwei Tage vor der Katastrophe.
In dieser Nacht und in diesem Stück führte es also vier Hauptpersonen in der Steglitzer Albrechtstraße gar nicht zufällig zusammen: Hildegard Scheller, Männe, 16 Jahre alt, die sich mit dem Kochlehrling Hans Stephan im elterlichen Schlafzimmer vergnügte, was Günther Scheller aber nicht wissen durfte, denn Stephan hatte ihn bei seinem Vater wegen einer Sittlichkeitsaffäre angeschwärzt. Und natürlich Paul Krantz, der Mordangeklagte. Zu verschiedenen Zeiten tauchte noch die Freundin der Hildegard in einer Nebenrolle auf: Ellinor Ratti, eine geborene Italienerin, ebenso frühreif und lasziv wie Hildegard.
Vor Gericht wurden die Ereignisse minuziös aufgerollt. Paul und Günther ertränkten in der Scheller’schen Wohnung ihren Liebes- und Weltschmerz in Obstwein und Likören. Ellinor beteiligte sich an dem trübseligen Umtrunk und ließ sich abwechselnd von beiden küssen, ging dann aber nach Hause. Paul und Günther tranken sich in einen Zustand wilder Verzweiflung, Günther war erbost über die vermutete Anwesenheit seines Feindes Hans, Paul in lodernder Eifersucht auf den Nebenbuhler in Hildegards Schlafzimmer. Am Ende fassten sie den Entschluss, gemeinsam Selbstmord zu verüben und die beiden Liebenden mit in den Tod zu nehmen. Und eine Waffe hatte Paul ja mitgebracht…
Gegen sieben Uhr lief die Situation vollends aus dem Ruder. Günther verschaffte sich Eingang in das Schlafzimmer und entdeckte den Kochlehrling Hans, der sich in der Nische zwischen Kleiderschrank und Wand hinter einem Badetuch versteckt hatte. Erschoss er ihn und dann sich selbst? Hildegard und Ellinor, die ihre Freundin zur Schule abholte, hörten jedenfalls die tödlichen Schüsse aus nächster Nähe und fanden die beiden Toten in ihrem Blute liegen, und Paul kniete neben der Leiche von Günther. „Mörder!“ schrie Hildegard Paul ins Gesicht, aber der erklärte sofort: „Ich war es nicht, Günther hat geschossen!“
Vieles sprach aber gegen Paul. Dass er den Revolver nur zum Schutz mitbrachte, gab er unumwunden zu. Er gehörte dem Jungdeutschen Orden an, dessen Mitglieder wiederholt von politischen Gegnern angegriffen worden seien.
Viel schwerer wogen aber für die Staatsanwaltschaft zwei Briefe, die auf dem Scheller’schen Küchentisch gefunden worden waren. Der eine, von Günther unterschrieben und von Paul mit einem Zusatz versehen, war „An das Weltall“ gerichtet: „Liebes Weltall! Ein einziges Stück des Organismus vergeht. Sei nicht böse darüber. Du wirst den Verlust einer Zelle kaum als Verlust empfinden. Die Zeit rollt weiter. Was bedeutet so ein bisschen Leben? Ein kurzer aufleuchtender Schein in der Welt, dann Staub und Asche. Wir werden die letzten Konsequenzen ziehen. In diesem Moment werden Hans Stephan und Männe durch unsere Hand sterben. Wir beide, Günther und ich, werden lächelnd aus dem Leben scheiden.“ Im zweiten Brief, nur von Paul unterschrieben, nahm er von einem Freund Abschied: „Fritz, ich erschieße erst Hilde, dann Günther, während Günther den Hans Stephan zuerst erschießen wird. Das ist die volle Wahrheit. Lache nicht. Denke daran, dass mein Schritt die letzte Konsequenz eines vom Leben Getöteten ist. Günther ist vollkommen einverstanden und grüßt Dich wie ich zum letztenmal.“
Doch Paul hatte trotz der angeblich erdrückenden Beweislage Glück. Sein Verteidiger Dr. Dr. Erich Frey (1882-1964) war von seiner Unschuld überzeugt und machte den Prozess zu einem Meilenstein der deutschen Justizgeschichte. Wesentlich war unter anderem das Gutachten des psychologischen und pädagogischen Sachverständigen Prof. Dr. Eduard Spranger (1882-1963), des Autors der bekannten Schrift „Psychologie des Jugendalters“ (1924): „Es ist meiner Meinung nach beinahe niemals möglich, die Psyche des Jugendlichen in Einklang zu bringen mit der Fassung eines juristischen Paragraphen… Das Nachzittern seines ersten Liebes-Erlebnisses, der Alkohol und der mangelnde Schlaf – das alles bestimmt die aufgeregte Situation. Nie ist die Rede von Mord, sondern immer nur von einer Art erweitertem Selbstmord. Wenn Paul und Günther an das ‚Weltall‘ schreiben, ist es halb ernst und halb Theater.“
Spranger, in dessen Erziehungstheorie sich kulturphilosophische Ideen mit den besonderen Erlebnisweisen von Jugendlichen verbinden, wertete die vorgefundenen Briefe nicht als Tatvorsatz; jugendliches Verhalten unter den Umständen der Tatnacht sei als vorübergehende aufflammendes Handeln zu verstehen, das jegliche Konsequenz vermissen ließe. Mit solchen Aussagen wurden Anstöße für ein eigenes Jugendstrafrecht gegeben. Verteidiger Frey wiederum fasste all diese Überlegungen in seinem Plädoyer glänzend zusammen: „Die Anklage ist die Konstruktion eines wunderbar ausgebildeten Juristenhirns. Mit der Psyche eines Jugendlichen ist sie jedoch nicht in Einklang zu bringen.“
Paul Krantz wurde wegen verbotenen Waffenbesitzes zu einer durch die Untersuchungshaft verbüßten Gefängnisstrafe von drei Wochen verurteilt. „Dieser Fall“, so Erich Frey später, „der die Gemüter in der ganzen Welt aufwühlte, war für mich mehr als ein Sensationsprozess. Auch hier ging es, wie oft, um den Kopf eines Menschen. Aber mehr noch ging es um seine Seele. Ich kämpfte für Paul Krantz, den Angeklagten, wie ich für meinen eigenen Sohn gekämpft hätte.“
Und was ist aus den Überlebenden geworden?
Hildegard Scheller soll einen anderen Namen bekommen haben, verließ das Oberlyzeum Berlin-Mariendorf am 1. Juli 1927. Sie legte in einem ausländischen Töchterpensionat die Abschlussprüfungen ab, was ihr den Zugang zu einer Laufbahn als Bibliothekarin eröffnete. Die Eltern hatten genügend Geld, sie aus der Schusslinie zu nehmen, denn sie sollte zur Hauptdarstellerin eines Films über ihr Schicksal gemacht werden. Gerade Hildegard ist im Moabiter Prozess vom Landgerichtsvorsitzenden Dust verschärft vernommen worden unter Einbeziehung emotionaler und sexueller Details, um vor allen Dingen die Frage zu beantworten, ob sie noch Jungfrau sei. Dadurch war sie das Lieblingsobjekt der lüsternen Klatschpresse geworden und ebenso bekannt wie der Angeklagte.
Theodor Lessing (1872-1933) schreibt in seiner genialen Gerichtsreportage: „Eine Woche lang hat Moabit aus diesem Kindertrauerspiel einen Sensationsprozess gemacht. Indes hundert Literaten ihre klugen Federn, hundert Lichtbildner ihre Dunkelkammern bemühten, haben Richter, Lehrer, Erzieher, Seelenforscher, ohne schamrot zu werden, keimende Jugend betastet, nackend ausgezogen, viviseziert, ausgepresst. Ausgepresst durch jene Fragemartern, die die Erfahrung der alten Generation stellt, eine durchwegs verderbte und schon seelenhässlich gewordene Erfahrung, die die Jugend nicht besitzt…“
Die menschenverachtenden Vernehmungsmethoden veranlassten den Deutschen Reichstag und den Preußischen Landtag, sich mit der skandalösen Prozessführung zu beschäftigen. Das Ergebnis war eine Reform der Jugendgerichtsbarkeit („Lex Hilde“).
Paul Krantz konnte ebenfalls nicht in Berlin bleiben. Er besuchte als Stipendiat die Odenwaldschule Ober-Hambach und legte am 7. September 1929 am Hessischen Realgymnasium zu Darmstadt (heute Georg-Büchner-Schule) das Abitur ab. Dann studierte er in Frankfurt am Main Germanistik, Soziologie und Pädagogik, dort schloss er sich kommunistischen Zirkeln an. Seine herausragende Dissertation „Die Gestalt des jungen Menschen im deutschen Roman der Nachkriegszeit“ wurde nach der faschistischen Machtübernahme nicht mehr angenommen. Sein 1931 erschienener Roman „Die Mietskaserne“ landete in Berlin zwei Jahre später bei der Bücherverbrennung mit auf dem Scheiterhaufen. 1933 floh er, weil er wegen kommunistischer Tätigkeit polizeilich gesucht wurde, nach Frankreich, wurde hier ein anerkannter Schriftsteller und Essayist – in französischer Sprache. 1939 interniert, gelang ihm 1941 die Flucht nach New York und wurde Literaturprofessor an den Universitäten in Oklahoma und Milwaukee. Sein neuer Name: Ernst Erich Noth.
Erich Frey, der auch Serienmörder wie Fritz Haarmann verteidigt hatte, floh 1933 nach Paris und 1939 nach Chile, wo er in Santiago verstarb. Er war nicht nur ein Staranwalt, er war Fachschriftsteller und Autor diverser Theaterstücke. Seine Autobiografie „Ich beantrage Freispruch“ (1959) ist außerordentlich lesenswert.
Und Ellinor Ratti? Sie ist dem Justizwesen treu geblieben und wurde Protokollantin an einem Berliner Gericht.
Vom Krantz-Prozess gibt es faszinierende Gerichtsreportagen, so die schon erwähnte „Kindertragödie“ von Theodor Lessing und Slings (das ist Paul Schlesinger, 1876-1928) psychologisches Meisterwerk „Mordprozess Krantz“. Erich Salomon (1886-1944, im KZ Auschwitz ermordet), einer der Begründer der Gerichtsfotografie, führt uns mit seinen heimlich gemachten Aufnahmen authentisch in den Landgerichtssaal: Paul Krantz mit seinem Verteidiger und im Verhör, Hildegard Scheller auf der Zeugenbank, Ellinor Ratti bei ihrer Vernehmung, Erich Frey während seines Plädoyers. Und wir sehen die Pressebank im Landgerichtssaal und verstehen jetzt, warum Tausende Artikel über diesen Prozess in alle Welt geschickt wurden.
Künstlerisch ist der Stoff mehrfach adaptiert worden. Annette Hess und Alexander Pfeuffer schrieben ein sehr schönes Hörspiel für DeutschlandRadio Berlin: „Was nützt die Liebe in Gedanken“ (1997), Arno Meyer zu Küingdorf dichtete den poetischen Roman „Der Selbstmörder-Klub“ (1999). 1929 wurde der Fall erstmalig von Carl Boese unter dem Titel „Geschminkte Jugend“ verfilmt. Der zweite Film von Regisseur Max Nosseck und Produzent Axel Alexander mit gleichem Titel (1960/61) flopte, weil die Sittenwächter der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft den Streifen nur für Erwachsene freigaben. Der Film „bietet sich geradezu als Musterbeispiel für eine Beeinträchtigung der Erziehung zur gesellschaftlichen Tüchtigkeit an“, hieß es in der tugendhaften Begründung. Es saßen wohl alte Damen in der Kommission, die sich noch an den Fall und die sexuellen Ausschweifungen der Akteure genau erinnern konnten. Der dritte Film mit dem Hörspiel-Titel und mit Daniel Brühl und August Diehl in den Hauptrollen (Regie Achim von Borries) kam 2004 ins Kino und war ein ziemlich großer Erfolg.
Die Steglitzer Schülertragödie fasziniert zeitlos, weil Jugend und Sexualität, Liebe und Eifersucht, Mord und Selbstmord immer Themen sein werden, die die Menschen berühren und ihre emotionalen Grenzen überschreiten lassen.
Schlagwörter: Eduard Spranger, Frank-Rainer Schurich, Jugendstrafrecht, Paul Krantz, Schülermord, Steglitz