von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Zu den bitteren Ironien amerikanischer Gegenwart gehört gewiss, dass die sich heute größtenteils super-patriotisch gebenden Mormonen im 19. Jahrhundert von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft verfolgt und immer wieder vertrieben wurden – ein Schicksal, dass die Mormonen mit anderen Gruppierungen wie Katholiken, Freimaurern und später Gewerkschaftlern, Anarchisten und Sozialisten teilten. Ganz zu schweigen vom US-amerikanischen Genozid an den Ureinwohnern und dem unmenschlichen Sklavensystem in den Süd-Staaten. So ist es nicht verwunderlich, dass über viele Jahrzehnte hinweg die meisten Mormonen der amerikanischen Klassengesellschaft skeptisch gegenüberstanden. Wer jedoch heute politische Traktate wie Willard Mitt Romneys „No Apology: The Case for American Greatness“ zur Hand nimmt, wird immer wieder mit der extrem naiven und einseitigen Legende angeblicher amerikanischer moralischer Überlegenheit bombardiert. Derartige Schwarz-Weiss-Malerei und die damit verbundenen Kategorien von Glorifizierung – oder aber einer ebenso einseitigen Dämonisierung – mögen zwar die eigenen Vorurteile bestätigen, sind aber einem differenzierten Verstehen zutiefst abträglich. Hinzu kommt, dass (pseudo-) historische nationalistische Emotionen gerade von Politkern zumeist dann mobilisiert werden, wenn ihnen sachliche Auseinandersetzungen abträglich erscheinen und sie von augenscheinlichen Klasseninteressen ablenken möchten.
Historisch ernsthaft interessierte Beobachter sollten sich von derartigen Verallgemeinerungen und Abstraktionen fernhalten und dafür lieber ein für komplexe und oft widersprüchliche Entwicklungen und Traditionslinien offenes dialektisches Herangehen kultivieren.
Romney beschreibt in seinem Wahlkampf-Schmöker, wie sein aggressiver amerikanischer Nationalstolz und sein damit verbundenes Sendungsbewusstsein von Zeit zu Zeit kanadische und europäische Gesprächspartner nervt. Davon, so Romney, sollte sich ein gutpatriotischer Amerikaner aber nicht beeinflussen lassen. Denn trotz einiger – und am Ende doch recht nebensächlicher Schwächen – ist Romneys Fantasie-Amerika ein Ort der Freiheit, der Menschenrechte, der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie. Auch Amerikas Außenpolitik sei in den wesentlichen Zügen von moralischen und eben nicht von machtpolitischen Kriterien bestimmt. Kurz: Amerika war und ist zutiefst anti-imperialistisch und ein Freund freiheitlich gesinnter Menschen überall. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt.
Romney möchte nun, dass diese verlogene Mickey-Mouse-Version amerikanischer Geschichte in den Schulen und Universitäten des Landes verstärkt propagiert wird. Man kann sich da nur wünschen, dass sein Ur-Ur-Großvater Parley P. Pratt aus den ewigen Jagdgründen zu einem Kurzbesuch zurückkehrt, um Mitt den Hintern für seine dreisten Geschichtsklitterungen zu versohlen. Zwar Pratt sah sich selbst in der Tradition der neutestamentlichen Apostel und christlichen Märtyrer, war sich aber zugleich bewusst, eben nicht im restriktiven römischen Imperium, sondern in den freiheitlichen Vereinigten Staaten von Amerika zu leben. Im Unterschied zu seinem Nachfahren Mitt Romney verdrängte der wortgewaltige Pratt nicht den beträchtlichen Abstand zwischen amerikanischen und partiell in der europäischen Aufklärung wurzelnden Idealen von Freiheit und Toleranz auf der einen Seite und deren routinierte Missachtung auf der anderen. Die brutale Vertreibung der Mormonen aus Ohio, Missouri und schlieβlich Illinois konnte für Pratt nicht einfach unter den sprichwörtlichen Teppich gekehrt werden. Dank gerade seiner breit-gefächerten publizistischen Aktivitäten entwickelten die Mormonen im 19. Jahrhundert ein oppositionelles Selbstverständnis. Dieses mit den offiziellen nationalistischen amerikanischen Ritualen und Symbolen brechende Selbstbild kam unter anderem während der erzwungenen Flucht der Mormonen von Nauvoo in Illinois in die tausende Kilometer entfernten Berge und Wüsten Utahs 1847 zum Ausdruck. Pratt und seine Getreuen freundeten sich mit einer Gruppe von Ureinwohnern an, tauschten mit ihnen Geschenke aus und zelebrierten am 4. Juli bewusst nicht den amerikanischen Unabhängigkeitstag, da sie sich von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft verraten und ausgestoßen sahen, obgleich sie amerikanische Staatsbürger waren. Ein paar Jahre später missionierte Pratt potenzielle Konvertiten an der amerikanischen Westküste. Im Unterschied zu den meisten protestantischen Missionaren hatten die Mormonen damals gerade unter den Ureinwohnern größeren Erfolg, weil sie als selbst verfolgte Minderheit zumindest kurzzeitig auβerhalb der Kontrolle und Reichweite des aggressiv expandierenden amerikanischen Imperiums in ihrem Rocky-Mountain-“Zion” selbstbestimmt lebten. Die Mormonen wurden damals, anders als heute, eben nicht als Gringos wahrgenommen.
Pratt entschloss sich schlieβlich, seine Missionarsaktivitäten bis nach Süd-Amerika, Australien, Neuseeland und sogar Japan auszudehnen. Er lernte Spanisch und war voller Hoffnung. Am Ende konnte er sich nicht alle seine weltbürgerlichen Ambitionen erfüllen, bereiste aber immerhin Kanada, Chile und Groβbritannien für längere Zeit. Pratts Augenmerk wurde zunehmend polyzentrisch – wiederum in Kontrast zu Mitt Romney, dessen amerikazentrisches Weltbild während seiner Fettnäpfchentour via London, Israel und Polen kürzlich ins Schussfeld internationaler Kritik geriet. Romney brachte das Kunststück fertig, auf seiner im Endeffekt recht un-staatsmännischen Auslandstour die Briten, die Palästinenser und die Polen gleichzeitig zu brüskieren.
In den Industriezentren Englands kam Pratt mit dem von Friedrich Engels so einprägsam beschriebenen unmenschlichen Manchester-Kapitalismus in Berührung. Er und andere Mormonenmissionare waren schockiert vom obszönen Reichtum der Herrschenden auf Kosten der erschreckenden Armut der Arbeiterschaft. Solche schroffen sozialen Gegensätze war Pratt aus den USA nicht gewöhnt. Er schrieb an den Mormonen-Gründer und Propheten Joseph Smith mit eindringlichen Worten: „Oh! Bruder Smith, Millionen von Arbeitern sind ohne Einkommen, sie hungern und schuften wie Sklaven… Es zerreißt mir das Herz…“
Es bleibt zu fragen, was Ur-Ur-Groβvater Pratt Mitt erwidern würde, hörte er seinen Ur-Ur-Enkel von der Gröβe und Güte der Kapitalverwertungslogik und der vom jetzigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten so gepriesenen system-immanenten „kreativen Zerstörung” schwadronieren. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass Mitt Romney und Parley P. Pratt schwerlich auf der gleichen Seite in den uns von den Herren dieser Welt aufgezwungenen Klassenauseinandersetzungen zu finden sind. Dabei sollte man Pratt natürlich nicht einseitig idealisieren. So finden sich in seinen Tagebüchern, Briefen und Veröffentlichungen auch für das 19 Jahrhundert leider nicht unübliche rassistische Verlautbarungen. Dennoch zeichnet sich Pratt positiv mit seinem Nachfahren Romney nicht zuletzt auch darin aus, dass er sich als Querdenker auch in den eigenen Reihen nicht einschüchtern lies. Parley wie übrigens auch sein Bruder Orson Pratt legten sich mehrmals mit Smith und dessen Nachfolger Brigham Young an, wie man in Given und Grows lesenswerter Biografie „Parley P. Pratt: The Apostle Paul of Mormonism“ nachlesen kann. Gary James Bergera untersucht den zum Teil grundsätzlichen damaligen Meinungsstreit unter den Mormonen-Führern in seinem lesenswerten Buch „Conflict in the Quorum“. Auch das vom der an der Yale University promovierten Historiker Michael Quinn geschriebene zweibändige und detailliert dokumentierte Werk „The Mormon Hierarchy“ belegt, wie im 19. Jahrhundert Meinungsverschiedenheiten und Konflikte in der Kirchenführung viel offener und ehrlicher ausgetragen wurden als zur heutigen Zeit.
Mitt Romneys bekannte Aversion gegenüber den immer lauter werdenden Forderungen nach größerer Transparenz nicht nur seitens seiner Kritiker unterstreicht deutlich, wie weit die heutige institutionelle Mormonen-Kultur von ihren Anfängen entfernt ist. Die ältere Mormonenkultur von zumindest partiellem Meinungsstreit und Meinungsvielfalt auch auf Führungsebene ist heute größtenteils durch bürokratisierte Konformität ersetzt. Die Journalisten Michael Kranish und Scott Helman illustrieren in ihrem ansonsten leider wenig ergiebigen Buch „The Real Romney“, wie ungern der republikanische Präsidentschaftskandidat abweichende Perspektiven zur Kenntnis nimmt. In den frühen neunziger Jahren beispielsweise war Romney Pfahlpräsident der Mormonen in Boston – eine Position, die in etwa der eines katholischen Bischofs vergleichbar ist. In diesem Zusammenhang musste er über die Glaubenstreue von Judy Dushku befinden, um ihr Zugang zu einem Tempel zu gestatten. Da ihr andere Kirchenautoritäten bereits grünes Licht gaben, konnte Romney Dushkus Anliegen nicht ohne Komplikationen abwimmeln. Die an der Suffolk University in Boston als Professorin für Internationale Beziehungen lehrende liberale Mormonin musste sich allerdings von Romney anhören, wie ungern er ihren Tempelbesuch befürwortete. Sie entspreche nämlich keineswegs seinen Vorstellungen von Linientreue und sei in ihren Ansichten viel zu unabhängig.
Vielleicht bedenkt Romney in stillen Stunden, wie die amerikanische Konzernpresse die Ermordung seines Ur-Ur-Groβvaters Parley P. Pratt 1857 bejubelte. Sollte ihn da nicht die eigene Erinnerung an das ekelhaft-voyeuristische Zur-Schau-Stellen der Leichen von Saddam Hussein und Osama bin Laden in einer Atmosphäre von nationalistisch aufgeladenem Triumphgeschrei bitter hochkommen? Givens und Grow resümieren, dass die amerikanische Mehrheitsgesellschaft und auch die damals marginalisierten Mormonen das Medien-Spektakel um Pratts Tod als Zeichen sahen, wie wenig kompatibel hoch gepeitschter amerikanischer Nationalismus und Mormonentum sind. Ist es daher so abwegig, den Mormonen-Superpatriotismus im 20 Jahrhundert auch als Verdrängungsmechanismus zu deuten? Ist der so penetrant zur Schau getragene Hurra-Patriotismus eines Mitt Romney am Ende nicht gar ein Weg, um sich nicht länger kollektiv mit der eigenen Opferrolle identifizieren zu müssen? Ultra-Nationalismus kompensiert nicht selten komplexe, widersprüchliche und alles andere als rosige Erfahrungen, die dadurch entschärft und zur einer linearen sowie leicht verdaulichen Erfolgsgeschichte umgedeutet werden.
Bedauerlicherweise animiert die heute weitgehend verdrängte und ins folkloristische kanalisierte kollektive Erinnerung der Mormonen an ihren eigenen Außenseiter-Status im 19. Jahrhundert sie nicht dazu, sich mit anderen unterdrückten Gruppierungen im 20. Jahrhundert zu solidarisieren. Zwar gab und gibt es hier und da Mormonen, die sich an emanzipatorischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bewegungen beteiligen. Insgesamt jedoch spielte die Mormonenkirche in den vergangenen Jahrzehnten eine bremsende bis reaktionäre Rolle.
Romneys amerikazentrisches wirtschaftselitäres Weltbild verleitete ihn nicht nur, ganz undiplomatisch den Briten mangelndes Olympia-Organisationstalent vorwerfen. Sein mangelndes kulturelles Einfühlungsvermögen und seine brachiale Rhetorik sowie kasinokapitalistischen Praktiken vermasselten auch Romneys heuchlerischen Anbiederungsversuch an die polnische Solidarność-Gewerkschaft. Schließlich ist seine instinktive Überzeugung angelsächsischer kultureller Überlegenheit gegenüber den Palästinensern auch ein Grund, warum Romney mit willkürlichen, aus ihrem konkreten Zusammenhang gerissenen Zahlen, zur „mangelnden Arbeitsproduktivität“ in der West Bank und Gaza, im Grunde rassistische Annahmen zu rechtfertigen sucht. Abstrakte, von ihren örtlichen und regionalen Umständen völlig losgelöste und nicht einmal faktisch richtige Statistiken erklären für Romney, warum Israels Wirtschaftskraft stark und die der Palästinenser schwach ist. So, als ob es weder ein Besatzungsregime noch die barbarische Blockade und Okkupation gäbe. Sieht Romney gar das Niederwalzen palästinensischer Häuser als ein Beispiel „kreativer Zerstörung“, für die die betroffene Bevölkerung gefälligst dankbar zu sein habe?
Romney wäre nicht schlecht beraten, Zbigniew Brzezinskis neues Buch „Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power“ sowie Amy Chuas „Day of Empire: How Hyperpowers Rise To Global Dominance And Why They Fall“ eindringlich zu lesen. Beide Werke, durchaus auf Seiten der herrschenden Klasse, warnen vor nationalistischen Illusionen und den immer größeren Kosten, die mit dem unilateralen amerikanischen Führungsanspruch verbunden sind. Chua, Professorin für Internationales Recht an der Yale University, ist einigen Lesern vielleicht noch als die Tiger Mom und Autorin von „Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ in guter oder weniger guter Erinnerung. In dem bereits 2007 erschienen Werk über die weltbeherrschenden Hyper-Mächte untersucht sie Aufstieg und Niedergang der großen Reiche, vom alten Persien bis zu Alexander dem Großen, Dschingis Khan, dem holländischen Handelsimperium, dem britischen Weltreich und – natürlich den USA. Ihr Fazit: Ohne Toleranz, kulturelle Offenheit und Multilateralismus sind auch die größten Militärmächte nicht von langer Dauer. Das ausgrenzende Beharren auf einseitigen nationalen Mythen, angeblicher kultureller Überlegenheit oder gar göttlichen Auserwähltheitsansprüchen führt langfristig in den Abgrund.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Mormonen, Parley P. Pratt, Romney, USA