15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Schlaflos in Höngeda

von Henryk Goldberg

Madam hat Honey etwas gesagt. Sie hat es nicht, wie es dem Brauch entspricht, leise gesagt, sie hat es laut übers Land gerufen. Jeder hats gehört, doch einer weiss Bescheid. Denn Madam hatte, was zu sagen war, auf ein großes Schild gemalt und das heimlich an den Ortseingang von Höngeda gestellt: Ich liebe dich mein Honey. Deine Madam. Das ist wie ein anonymer Blumenstrauß, dessen Absender nur der, dem er gilt, am sicheren Zeichen zu erkennen vermag. Eine Gedichtzeile oder eben eine Madam und ein Honey. Und alle habens gesehen und freuten sich des fremden Glückes. Schade nur, sagte die anonyme, weil gesetzeswidrige Madam, dass er, wie so viele Männer, seine Gefühle nur sehr selten zeigt. Aber da, liebe Madam, sollten Sie den Honey einfach mal mit ins Kino nehmen. Mag sein, in Höngeda sind nur Sie und der Honey schlaflos, in Seattle waren wir es alle. Wir Jungs.
Da oben auf dem Empire State Building, da ist fast schon alles vorbei und der Junge hat seinen Teddy vergessen und dann geschieht Meg und Tom das Wunder der Liebe. Und dann geht das Licht an im Saal und viele Frauen tragen sanfte Tränen; das schmückt. Doch merkwürdig viele Männer haben etwas an der Brille zu korrigieren, anderen wiederum scheint etwas in die Augen geraten zu sein.
Oder die schöne Hure. Da fährt er nun weg der schöne Millionär, er kann nicht bleiben und sie kann sein Geld nicht behalten und den Job auch nicht und alle sind sehr traurig. Doch dann kommt das große schwarze Auto und der Mann klettert, zwar nicht sieben Rosen, aber eine immerhin zwischen den Zähnen, die Feuerleiter hinauf. Und dann geschieht Julia und Richard das Wunder der Liebe. Und dann geht das Licht an im Saal und die Jungens haben wieder Probleme mit den Brillen und dem Zeug, was so durch die Luft fliegt.
Ich nicht, natürlich nicht. Kann sein, weil ich berufsbedingt öfter im Kino bin. Da entwickelt man eine gewisse Routine. Einfach die Augen auswischen, ehe das Licht angeht. Und wenn das nicht reicht, einfach stehenbleiben und die Augen schließen. Nachdenklich, grüblerisch, analytisch. Die Intellektuellen-Nummer geht und hilft fast immer.
Aber peinlich ist es schon. Heulen im Kino. Ist schon blöd. Indianer weinen nicht und Indianer sind wir doch alle, wenigstens im Herzen. Und dann heulen wir so rum.Wenn es wenigstens um was wirklich Wichtiges ginge. Aber das wirklich Wichtige ist meist zu ernst zum Heulen. Es geht um erfundene Geschichten, die für sehr viel Geld ausgedacht und erzählt werden. Aber wenn Leonardo von der Eisscholle rutscht und Kate weiß, dass er nun sterben wird, dann sehen wir das mit ihren Augen und nicht mit denen der sozio-kulturellen Analyse. Ein Herzensidiot, wer sich nicht hin und wieder vom gut gemachten gefühlsechten Kino berühren lässt und ehe ich ein Idiot bin, bin ich doch lieber kein Indianer.
Natürlich, das sind fremde Gefühle, geborgt für zwei Stunden und gekauft an der Kasse, es sind die Produkte der Gefühlsindustrie. Und das ist gut so. Denn kein Mensch hielte das aus, praktisch und mental: jede Woche eine Romanze, jeden Monat eine Tragödie, jedes Jahr einen Mann, eine Frau fürs Leben. Aber ein bisschen mehr Schwingen im Gemüt, als man wirklich zu erleben vermag, ein bisschen mehr Erschütterung im Herzen, als man wirklich zu ertragen vermag, das ist schon schön. Die Schwingung und die Erschütterung zum seelischen Nulltarif, die verkauft uns das Kino. Das ist, wie die Träume, eine Art Hygiene für die Seele.
Madam und Honey haben uns nichts verkauft und wahr sind sie auch. Die beiden sind vielleicht das wirklich große Kino der Saison.
Und wenn es schief geht, sind nicht wir gescheitert.