15. Jahrgang | Nummer 15 | 23. Juli 2012

Querbeet (XII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Handygeblitz, Eistheater, XXXL-Jeans und Wishmob.

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Matilde Vicenci steht allabendlich am Anfang. Die Signora, eine wackere Bäckersfrau, gründete anno 1905 die Konditorei „Vicenci“ – heute eine respektable Veroneser Großbäckerei mit Matildens Antlitz im Logo. Und Köstlichkeiten nach Geheimrezepten aus der Gründerzeit im Angebot. Zu dem gehört ein Plastiktütchen, das dem Publikum der Arena di Verona vor Beginn der Opernvorstellung von vielen feschen Matilden in die Hand gedrückt wird. Doch statt eines Leckerlis steckt da eine Puppenkerze drin. Und die deutsche Stadionsprecherin bittet mit schwäbischem Unterton, selbige Lichtlein nach „uraltem Brauch“ zum Auftakt der Ouvertüre fleißig zu schwenken (Feuerzeuge gelten als stillos).
Doch vor der niedlichen Flammenwerferei hat eine antik gewandete Gong-Heroine ihre beifallumtosten drei Auftritte mit der scheppernden Wuchtscheibe. Zwischen dem archaischen Gedröhn auf Edelblech: Einmarsch der Instrumentalisten über eine Art Laufsteg in die Orchesterwanne. Nie sah ich so viele Musikerinnen in superschickem Schwarz sowie supersteilen Pumps gelassen über die Bretter stöckeln.
Nachdem Dirigent Daniel Oren – die Arme hochgerissen wie Spartakus-Superstar – die Arena zum Kochen brachte, ging’s clock 21.15 Uhr los mit „Aida“-Supershow im Kerzengeflacker und monumental naturalistischem Nil-Ambiente. Suggestive Scheinwerfereffekte, Schleiertänze, Massenaufmärsche (ohne Elefanten, aber mit Kamelen, Pferden, Fackeln), gigantische Tempelbauten, wie in echt aus Holz und Pappe. Der große Rest ist Verdi, dessen Liebestragödie trotz all dem aufwändigen Brimborium herzzerreißend und ohne elektronische Verstärkung rüberkommt. Dazwischen drei Pausen à 20 Minuten. Erst nach ein Uhr morgens schmachten Radames und Aida ihren grausigen Liebestod in den Sternenhimmel – kein Regen, nur Tränen, Handygeblitz, Jubel. In der Pause zuvor warnt die schwäbische Lautsprecherstimme, nicht etwa Sitzkissen vor Begeisterung durch die Luft zu schmeißen.
„L‘amore dá spettacodo“, das populäre Motto der „Arena“, erfüllte sich auch in seinem 90. Jahrgang aufs herrlichste. Und auf dem malerischen Vorplatz des kolossalen Runds gibt’s nicht nur jede Menge durchaus preiswerte Restaurants, sondern – so desillusionierend wie neugierig machend – die Kulissen-Lagerplätze für die sechs Meisterwerke der aktuellen Saison: neben „Aida“ noch „Don Giovanni“, „Carmen“, „Romeo et Juliette“, „Turandot“, „Tosca“. Übrigens, neuerdings lockt im Palazzo Forti ein kleines feines Opern-Museum, das die spektakuläre Festival-Geschichte aufblättert. Könnte man sich auch für Traditionsunternehmen hierzulande vorstellen (Berlin, Dresden, München; in Bayreuth wird dran gewerkelt, aber man kommt nicht aus dem Knick).

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Beim Erfurter Domstufen-Festival geht es – schon witterungsbedingt – etwas kühler zu. Keine Kerzen, keine Gong-Madame, doch das auch hier nervende Handygeblitz. Aber gleichfalls eine grandiose historische Kulisse, wenn auch nicht ganz so alt wie die von Verona. Und auch mit Verdi. Mit seinem freilich noch nicht so wie „Aida“ perfekt ausgebufften Frühwerk „Die Lombarden“. Guy Montavons Erfurter Oper zieht seit Jahren im Sommer unterm Beifall der Massen auf den Domplatz. Dabei sollte jedem klar sein, dass man in Regietheater-Deutschland und erwiesenermaßen auch in Erfurt nicht einem hemmungslosen Naturalismus frönt. Also wird abstrahiert und verfremdet bis zum (hier: utopischen) Finale, doch alles mit klugem Augenmaß und bemerkenswertem Geschick. Muss auch – sonderlich bei den „Lombarden“, einer Kreuzritter-Saga mit (wie bei „Aida“) verbotener Liebe zwischen gnadenlos verfeindeten Lagern: Geht es doch ums gegenseitige Abschlachten von Christen und Moslems. Das ist bei aller genretypisch suggestiven Effektmalerei erschütternd gut vorgeführt als monumentales Warnbild. Ein Beispiel, wie Sommernachtsunterhaltung unter (regen)freiem Himmel zwar etwas plakativ, doch ohne jede Peinlichkeit zusammen gehen kann mit dem Todernst brennender Gegenwärtigkeit. Die voll besetzten Tribünen reagierten zuweilen perplex – und hatten schließlich verstanden. Und feierten die singstarken Solisten wie die wuchtigen, raffiniert choreographierten Chöre. Ein eindringliches Erlebnis.

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Georg Büchner – passend zur aktuellen Großwetterlage – diesmal im Eiswinter und folglich im geschlossenen Gehäuse. So stapft denn im Theater Dortmund Büchners Woyzeck schwer durch die rabenschwarze Nacht-Bühne: Unter den Stiefeln knirscht dick aufgeschüttet Gefrorenes. Und dennoch geht es in Kay Voges’ „Woyzeck“-Inszenierung heiß her wie kaum zuvor erlebt: Geilheit dampft, Wut schwitzt, Körper glühen vor Bosheit, Glückssehnsucht, Daseinsenttäuschung und Vernichtungsgier. Ein entsetzlicher Thriller in Echtzeit. Ein Menschenschrei ins Kalt-Leere. Wild, schön, grauenvoll.

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Der Mann ist bekannt in Berlin für seine ewig rutschenden XXXL-Jeans und sein kunstvoll drapiertes, ausgedünnt graues Wuschelhaar. Berühmt geworden ist Matthias Lilienthal als Ingenieur zweier Epoche machender Theater: Zum einen Castorfs Volksbühne, die er (wie das dort angedockte Schlingensief-Theater) vor zwei Jahrzehnten als Dramaturg mit in den Weltruhm schob; zum andern das aus mehreren Spielorten zusammengefügte Bühnen-Kombinat namens HAU. Seit 2003 läuft dort permanent ein internationaler Festspielbetrieb – Crossover-Produktionen aus aller Welt gaben sich unentwegt die Klinke in die Hand. Die unglaubliche Vielfalt brachte Sagenhaftes, aber auch Blödsinn, der womöglich Spaß machte, ansonsten aber in der Masse schnell wieder versank. Wie die vielen spektakulären Stadt- oder Länder-Erkundungsprojekte (kürzlich eine Show internationaler Performer als „Große Weltausstellung – The World Is Not Fair“ auf dem Tempelhofer Flughafenareal). Was jedoch gilt: Im HAU stürmte es stets lokal und global. Und was bleibt von Lilienthals HAU (falls seine Nachfolger nicht pfuschen) ist eine Berliner Großküche des weltweiten Neuerertums. Also eine Berliner Weltberühmtheit – denn darunter hat’s der genialische Herr viel zu weiter Hosen mit seiner feinen Nase für Talente und seiner groben fürs Spektakel nie getan. Trotzdem lässt der gewiefte Manager und besessene Ermöglicher jetzt los. Gerade weil‘s am tollsten läuft! Und trollt sich mit seinen 52 Jahren in die Welt, um sich dort das Programm zu erfinden für „Theater der Welt“ 2014 in Mannheim; Lilienthal ist Festivaldirektor.

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Zum Schluss eine Überraschung, besonders für Alt-Ostler: In Duisburg rief eine idealistisch gesinnte Gruppe junger Kunstfreunde auf zum „Subbotnik“. Treffpunkt war vorvergangenen Samstag Punkt zwölf Uhr mittags in der Immanuel-Kant-Anlage zwischen Hauptbahnhof und Lehmbruck-Museum, das in dem sieben Hektar großen Grün seinen Skulpturenpark betreibt, der unentwegt heimgesucht wird vom Vandalismus. Und siehe: Viele Freiwillige kamen! Um die gut drei Dutzend Artefakte weltberühmter Künstler vom Geschmier zu befreien und den Dreck beiseite zu schaffen. Für ohne Geld. Natürlich nicht unter dem Schlachtruf „Subbotnik“. Die Schöner-unsere-Städte-und-Dörfer-Aktion lief zeitgemäß via Facebook unter „Wishmob!“. Ihre Wiederholung dürfte alsbald fällig sein – schon zum nächsten Querbeet.