von Kai Agthe
Manfred Flügges Biografie über den französischen Diplomaten und „Rebell der Stunde“ ist kaum erschienen, da lässt der so Geehrte ein neues Buch folgen. In dem Werk zieht Stéphane Hessel eine Bilanz seines Lebens und seiner Empörung. Das ist einerseits überraschend, weil der Franzose bereits in den neunziger Jahren mit dem Buch „Tanz mit dem Jahrhundert“ eine ausführliche Autobiografie publizierte. Andererseits sorgten seine beiden Traktate „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“, die in Europa Bestseller wurden, dafür, dass der Greis heute als „Gewissen der westlichen Welt“ und begehrter Gesprächspartner sowie gefragter Autor gilt. Die Anregung, das vorliegende Buch zu schreiben, kam denn auch von einem Verlag.
Was für Stéphane Hessel als Persönlichkeit gilt, ist auch über „Empörung – Meine Bilanz“ zu sagen: Selten zuvor wurde politischer Protest stiller und charmanter formuliert als hier. Kaum zu glauben, dass dieser sensible Mahner und Liebhaber der Poesie ein Vater von Occupy ist. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich der französische Diplomat den Kampf für die Menschenrechte zu eigen gemacht. Mit der globalen Krise fand Hessel europaweit Gehör. Er protestiert hier gegen die Macht der Banken, Oligarchen und die „skandalöse französische Asylpolitik“, plädiert für Demokratie, Ökologie und eine Philosophie des „Mitfühlens“.
Zu den Philosophen, die Stéphane Hessel als Rat- und Zitatgeber an seine Seite holt, gehört neben Peter Sloterdijk auch der Franzose Edgar Morin. Hessel stapelt eingangs seiner „Bilanz“ tief, wenn er meint, dass „man sich zwangsläufig mehr für das interessieren“ müsse, „was ich erlebt habe, als für das, was ich denke“, weil ihm zum politischen Vordenker die „philosophische Bildung“ fehle. Das Gegenteil ist der Fall. Hier spricht ein lebenskluger Mensch, der in gleicher Weise in Politik und Poesie zu Hause ist. Vorträge, Diskussionsrunden und Interviews lässt er gern mit einem auswendig aufgesagten Gedicht ausklingen. „Verse aufzusagen ist für mich“, so Stéphane Hessel, „wie mitten in einer mehr oder weniger formellen Situation auf einer wertvollen Geige zu improvisieren.“
Mit Edgar Morin ist sich Stéphane Hessel einig, dass in Europa im Grunde alles reformiert werden müsse: vom Finanzsystem über den Konsum bis hin zum Denken. Das ist ein gewaltiges Unterfangen, für das Politiker nicht eben empfänglich sein dürften. Hessel ist aber auch mit 94 Jahren optimistisch genug, diese Forderung mit Leidenschaft und Inbrunst zu vertreten. Gewissheit gibt ihm der Philosoph Jean-Claude Carrière, den er mit den Worten zitiert, „Hoffnung könne, sofern überhaupt, nur aus dem kommen, was wir selber Tag für Tag tun“.
Für seine unnachgiebige Kritik gegenüber Israel ist Stéphane Hessel in Frankreich zuletzt oft gescholten worden. Auch in „Empörung“ kommt er auf das Thema zu sprechen. Dazu heißt es zunächst recht abstrakt, dass er zu jener Gruppe von Menschen gehöre, die der Meinung sind, dass Israel dazu gebracht werden solle, „die Geschichte und die Realität so zu sehen, wie sie ist.“ Wieso aber nur Israel, sehr geehrter Stéphane Hessel? Er votiert dann mit Daniel Cohn-Bendit ganz konkret für „die Anerkennung des Staates Palästina in den Grenzen von 1967“.
Übersetzt hat das Buch übrigens Michael Kogon, der Sohn von Eugen Kogon, dem Verfasser des Klassikers „Der SS-Staat“ (zuerst 1946). Eugen Kogon war es auch, der im Herbst 1944 im KZ Buchenwald jene Todesliste fälschte, auf der bereits Hessels Name stand. Nur durch die mutige Aktion Eugen Kogons konnte der Deutsch-Franzose die Hitler-Diktatur überleben.
Der Medienstar, wie sich Hessel augenzwinkernd nennt, sieht seine späte Berühmtheit so, wie es einem Menschen, der auf die 100 zugeht, zukommt: bescheiden. „Ich verfüge nur über so viel Weisheit, wie mir zuteilgeworden ist, und über so viel Einfluss, wie man mir zugesteht.“ Das zentrale Credo Stéphane Hessels aber lautet: „Ich glaube, dass man im Leben glücklich ist, wenn sich engagiert.“ In diesem Sinne führt der Diplomat ein überaus glückliches Leben. Denn es gibt noch zahlreiche Mahnworte zu sprechen und noch viele Gedichte zu rezitieren.
Stéphane Hessel: Empörung – Meine Bilanz. Aus dem Französischen von Michael Kogon, Pattloch Verlag, München 2012, 233 S., 16,99 Euro
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