15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Legenden der herrschenden Lehre: Sparen, Sparkurs …

von Albrecht Müller

Den Kampf um den angemessenen, traditionellen Gebrauch des Wortes „Reform“ hat der aufklärende Teil unserer Gesellschaft schon verloren. Reformen sind jetzt – anders als noch vor 40 Jahren – Veränderungen zulasten der Mehrheit. Auch die Umdeutung der Finanz- und Bankenkrise in eine „Staatsschuldenkrise“ ist den Profiteuren der Bankenrettung gelungen. Zurzeit wird mit dem verfälschenden Gebrauch des Wortes „Sparen“ gearbeitet. Schäuble, Merkel, die Troika [EU-Kommission, EZB und IWF- d. Red.], SpiegelOnline und nahezu alle anderen Medien gebrauchen selbstverständlich die Worte „Sparen“ und „Sparkurs“, obwohl in der jetzigen Situation mit dieser Politik das Sparen nicht gelingt. Was Deutschland und die Troika zum Beispiel Griechenland aufgezwungen haben, war keine Sparpolitik und kein Sparkurs. Es war und ist nicht mehr als eine Spar-Absichtspolitik. Das Verrückte: Auch die Kritiker der erfolglosen Spar-Absichtspolitik übernehmen den gängig gemachten Begriff Sparen und Sparkurs, obwohl das Wort Sparen sowohl theoretisch als auch empirisch falsch angewandt wird.
Wenn über die Forderungen des neuen französischen Präsidenten François Hollande geschrieben wird, dann wird selbstverständlich berichtet, er wolle den Sparkurs aufgeben. Wenn das neue Buch von Paul Krugman besprochen wird, wie am 14. Mai im Deutschlandfunk, dann heißt es: „Star-Ökonom plädiert für ein Ende der Sparpolitik“ Selbst Ulrike Herrmann von der TAZ oder auch wir in den NachDenkSeiten lassen uns schon auf den Sprachgebrauch der neoliberalen Meinungsführer ein oder verlinken auf Autoren, die das tun.
Wenn ein Einzelner oder eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen entscheidet, im Jahr 2.000 Euro zusätzlich zu sparen, dann gelingt das in der Regel. Dann geht man nicht mehr aus, macht keine Ferien. Jedenfalls liegt die Entscheidung über Sparen und Sparerfolg in der Regel in der Hand dieser Personen. Diese Lebenserfahrung wird nun häufig auf eine Volkswirtschaft übertragen, und es wird angenommen, dass wenn Finanzminister und Regierung zu sparen beschließen, dann auch der Erfolg einträte.
Man weiß aus der volkswirtschaftlichen Theorie, dass diese Annahme nicht stimmt. Wenn mitten in oder zu Beginn einer wirtschaftlichen Krise zu sparen versucht wird, dann wird sehr oft die Krise verschärft und der Sparerfolg bleibt aus; noch schlimmer: die Verschärfung der Krise führt zu weiteren Steuerausfällen und oft auch zu höheren Zahlungsverpflichtungen an die zusätzlichen Arbeitslosen und zu Zahlungen an in Not geratene Menschen. Man weiß nicht nur aus der Theorie, man weiß aus der Praxis früherer Krisen, aus der Weltwirtschaftskrise wie auch unmittelbar jetzt aus der Erfahrung mit Griechenland und anderen Ländern, dass die Theorie stimmt. Sparabsicht ist nicht gleich Sparerfolg. In kritischen Zeiten führt die Spar-Absicht zu einer prozyklischen Verschärfung der Lage und zu weniger Sparen.
Obwohl die Zusammenhänge sowohl theoretisch als auch empirisch belegt sind und auf dem Tisch liegen und sich prominente Ökonomen wie Peter Bofinger dazu aufklärend äußern, wird in der öffentlichen Debatte so getan, als gäbe es diesen Befund nicht. Die Vertreter der herrschenden Lehre in der Politik und in der Wissenschaft, in den Medien und bei den internationalen Organisationen sprechen ganz selbstverständlich vom Sparen und vom Sparkurs, obwohl nachweisbar ist, dass das Sparen gar nicht gelingt. Immer wieder wird von Sparpolitik und Sparkurs gesprochen, obwohl die Sparpolitik in der Regel gar keine ist.
Es bleibt angesichts des Sprachgebrauchs der herrschenden Kreise und der Medien die Frage, ob man dort diese einfachen Zusammenhänge – den Unterschied zwischen einzelwirtschaftlicher Betrachtung und volkswirtschaftlicher Betrachtungsweise – nicht mehr erkennt oder bewusst darüber hinwegredet.
Viele Journalisten dürften die Zusammenhänge nicht erkennen und einfach nachsprechen, was ihnen vorgesagt wird. Andere sind in die gängigen PR-Kampagnen zum Thema eingebaut. Diese PR-Kampagnen haben zum Beispiel das Ziel, den Staat immer mehr aus der Verantwortung für die Daseinsvorsorge heraus zu drängen und Felder für Privatisierung zu öffnen und zielen deshalb auf sinkende öffentliche Ausgaben. SpiegelOnline, das Medium, das sich fast umfassend auf diesen Sprachgebrauch eingelassen hat, ist vermutlich so eng mit der Public-Relations-Maschinerie der herrschenden Kreise verbunden, dass man eine abgesprochene Absicht unterstellen muss. Bei Rolf-Dieter Krause von der ARD bin ich ausgesprochen unsicher. Er war einmal ein aufklärender Kopf. Umso schlimmer ist das, was er jetzt von sich gibt: „Griechenland muss schon in kürzester Zeit wieder Sparmaßnahmen angehen, und es braucht wieder Geld.“
Vermutlich sind Angela Merkel und Wolfgang Schäuble intelligent genug zu erkennen, dass ihre Hauptlinie, die angebliche Sparpolitik, den angepeilten Erfolg unter den herrschenden Bedingungen nicht haben kann. Wahrscheinlich sind sie ideologisch aber so sehr festgelegt, dass ihnen die Einengung der Staatstätigkeit zumindest nicht zuwider ist. Ausschlaggebend für die herrschende Linie ihrer Politik scheint mir zu sein, dass es ihnen vor allem um die Mehrheit bei der nächsten Wahl geht. Sie bauen darauf, Mehrheiten mobilisieren zu können, wenn sie ihre Öffentlichkeitsarbeit auf weit verbreiteten Legenden und Vorurteilen aufbauen. Wenn sie dabei noch dessen sicher sein können, dass die Opposition die Legenden und Vorurteile ähnlich respektiert und nicht widerspricht, umso besser.
Für die Einschätzung, dass es eher Zynismus als Nichtwissen ist, was Schäuble und Merkel an ihrer angeblichen Sparpolitik festhalten lässt, spricht die Tatsache, dass Kanzlerin Merkel mit „schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen“, wie sie heute sagt, 2008 und 2009 ja gute Erfahrungen gemacht hat. Wir sollten ihnen dieses zynische weil zerstörerische Geschäft nicht erleichtern. Deshalb die Anregung: Übernehmen Sie nicht den Sprachgebrauch der herrschenden Meinungsführer. Wahrscheinlich ist die Schlacht um den Begriff „Reform“ zwar leider verloren. Beim Begriff „Sparen“ und „Sparpolitik“ wäre aber zu raten, konsequent „Spar-Absichtspolitik“ zu sagen und zu schreiben oder von „Sparversuchen“ oder „angeblicher Sparpolitik“ oder „angeblicher Konsolidierung“ zu sprechen.
Übrigens: Im Kontext sollte man auch tunlichst vermeiden, die Begriffe „schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm“ oder „Beschäftigung auf Pump“. Zu gebrauchen. Das tut Angela Merkel besonders gern.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Nachdenkseiten (www.nachdenkseiten.de).