15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Das Ende der ISAF. Die Tücken des vermeintlichen Abzugs aus Afghanistan

von Joanna Schürkes

Auf dem NATO-Gipfel in Chicago wurde die Zukunft der NATO-Mission in Afghanistan – ISAF – beschlossen. Wie schon befürchtet, wird das Ende der ISAF allerdings nicht das Ende der Präsenz von NATO-Truppen und schon gar nicht des Krieges in Afghanistan bedeuten. Vielmehr wird es eine „neue“ Mission geben, die sich auf „Ausbildung, Beratung und Unterstützung“ der afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren wird. Die Stärke dieser Mission soll zwischen 10.000 und 40.000 Soldaten liegen. Natürlich handelt es sich dabei nicht ausschließlich um Ausbilder: Auch weiterhin wird es schwer bewaffnete Einheiten geben, die die „Ausbilder“ schützen, sowie Spezialeinheiten, die den Kampf gegen die „Aufständischen“ weiterführen werden. Allerdings werden die NATO-Staaten das Ende der ISAF gegenüber ihrer Bevölkerung als Beendigung des Krieges in Afghanistan verkaufen, wie Thomas Ruttig jüngst in der taz schrieb: „Mit dieser Reduzierung soll der Anschein erweckt werden, der Krieg in Afghanistan sei beendet. Wie im Falle Iraks soll das Thema von den Titelseiten und aus dem Bewusstsein der Wähler verschwinden. Denn wenn nur noch ein paar deutsche Ausbilder in Afghanistan sind, wird es keine ‚eingebettete‘ Berichterstattung mehr geben und auch weniger pressebegleitete Minister- und Parlamentarierreisen.“ Insofern wurde auch der angekündigte Abzug der französischen Truppen in Chicago wenig kritisiert, schließlich hat der neue französische Präsident Hollande schon angekündigt, dass auch französische Soldaten sich an der Nachfolgemission als „Ausbilder“ beteiligen werden.
Dennoch bedeutet das Ende von ISAF, dass die NATO-Staaten eine große Anzahl an Truppen mitsamt deren Material aus Afghanistan abziehen müssen. Derzeit sind circa 130.000 NATO-Soldaten dort stationiert. Seit 2001 wurden laut Spiegel rund 120.000 Container voll mit militärischem Material und mehr als 75.000 Fahrzeuge nach Afghanistan transportiert, die zumindest teilweise auch wieder zurückgebracht werden sollen – ein Teil wird wohl als „Ausstattungshilfe“ an die afghanische Armee und Polizei übergeben werden.
Auch nach dem Gipfel in Chicago ist unklar, über welche Routen die Soldaten und das Material abgezogen werden sollen. Bisher lief der Nachschub für die NATO-Truppen zum Großteil (etwa 80 Prozent) über Pakistan. Laster wurden im Hafen von Karachi beladen und fuhren dann über Quetta und die Grenzstadt Chaman nach Kandahar oder über Peshawar und Torkam nach Kabul. Die pakistanische Regierung hatte die Grenze zu Afghanistan für die Versorgung der Truppen allerdings seit November 2011 bis kurz vor dem NATO-Gipfel geschlossen, da die USA zum wiederholten Male pakistanische Soldaten im Grenzgebiet zu Afghanistan beschossen hatte; im November 2011 waren dabei 24 Soldaten getötet worden. Das Angebot Pakistans – gegen eine Gebühr von 5.000 US-Dollar pro Container – die Route wieder zu öffnen, wurde vom US-Verteidigungsminister Leon Panetta als unakzeptabel zurückgewiesen. Selbst wenn es allerdings eine Einigung mit der pakistanischen Regierung geben sollte, so bleibt die Route unsicher. Bis zur Schließung der Grenze waren immer häufiger Anschläge auf Laster mit Material für die ISAF-Truppen in Pakistan verübt worden. Zudem hatte das US-Militär das riesige Geschäft der Truppenversorgung an private Logistik- und Sicherheitsunternehmen ausgelagert, die wiederum lokale Warlords bezahlen, um passieren zu können. Hinzu kommt, dass auch die Bevölkerung, die massiv unter den amerikanischen Drohnenangriffen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet leidet, die Unterbrechung des Nachschubs als Möglichkeit erkannt hat, gegen diesen Krieg zu protestieren. So blockierten Anfang 2011 Demonstranten eine Straße in Peschawar, die die LKWs auf dem Weg zur Grenze passieren müssen.
Die Alternativen zum Transport durch Pakistan sind allerdings sehr begrenzt: Die kürzeste Route durch den Iran steht nicht ernsthaft zur Debatte. So bleiben nur noch die sehr kostenaufwändige (und gefährliche) Möglichkeit, die Truppen und das Material per Flugzeug aus Afghanistan zu schaffen und die Route über die zentralasiatischen Staaten. Seit Jahren wird daher mit diesen Ländern zur Genehmigung von Transporten verhandelt. Auf dem NATO Gipfel soll mit Usbekistan über ein Abkommen gesprochen worden sein. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière zufolge sei es „unterschriftsreif“.
Schon für die Versorgung der ISAF-Truppen waren immer mehr Güter über das sogenannte Northern Distribution Network (NDN) transportiert worden. Dazu wurden – in der Regel mit Entwicklungshilfegeldern – Straßen, Brücken und Bahnlinien gebaut. Erst kürzlich wurde eine Bahnstrecke zwischen Termez in Usbekistan und Masar-i-Sharif in Afghanistan fertiggestellt. Finanziert wurde das Projekt von der asiatischen Entwicklungsbank, Japan und den USA, die ebenso eine Brücke zwischen Turkmenistan und Afghanistan finanzierten.
Natürlich lassen sich auch die zentralasiatischen Staaten die Genehmigung bezahlen. So haben die USA ihre Militärhilfe für Kirgisien, Tadschikistan und Turkmenistan im Jahr 2010 massiv erhöht. Die US-Expertin Lora Lumpe vermerkte: „Die 2010 erfolgte Erhöhung der FMF (Foreign Military Financing – J.S.) steht in einem engen Zusammenhang mit den Verhandlungen um die NDN, auch wenn es das State Department nicht zugeben würde“. Usbekistan erhält – nachdem das US-Militär 2005 des Landes verwiesen worden war und die USA daraufhin sämtliche Hilfen einstellte – erstmals 2011 wieder direkte Militärhilfe aus den USA, was auf die wichtige Rolle Usbekistans im NDN zurückzuführen ist.
Deutschland unterhält hingegen seit Jahren hervorragende Beziehungen zu Usbekistan. Die Menschrechtsverletzungen, die durch das Regime verübt werden, toleriert die deutsche Regierung weitgehend. Neben der engen Zusammenarbeit mit dem usbekischen Geheimdienst geht es vor allem um die Militärbasis in Termez, über die Soldaten der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten eingeflogen und versorgt werden. Dazu wurde zunächst die Durchführungsorganisation der deutschen Entwicklungshilfe, die GTZ, mit dem Ausbau beziehungsweise dessen Organisation des Flughafens in Termes betraut. Die GTZ wiederum vergab den Auftrag an ein usbekisches Bauunternehmen; in einem früheren Bericht von Spiegel-Redakteur Christian Neef hieß es dazu: „Fast zehn Millionen Euro hat die Bundeswehr bisher (bis Juni 2006 – J. S.) allein auf dem Flughafen investiert, oft machten Männer aus der Umgebung Karimows hier ihren Schnitt. Für Bauvorhaben zum Beispiel zeichnete die Firma des früheren Vizepremiers Rustam Junussow verantwortlich – dessen Rechnungen sollen in der Regel um 15 Prozent überhöht gewesen sein“.
Hinzu kommen nach Informationen der Bundesregierung jährliche Mieten für das Drehkreuz in Termes, sowie so genannte Ausgleichszahlungen für den „Transit von Personal und Gütern durch das Hoheitsgebiet der Republik Usbekistan und die Nutzung des Verkehrsumschlagknotens am Flughafen Termez“ seit 2010. Ob in dem Abkommen, das beim NATO-Gipfel verhandelt wurde, Summen festgelegt wurden, ist unklar.
Würde ein Großteil des Abzugs über die zentralasiatischen Länder erfolgen, so müssten Material und Soldaten über Nordafghanistan an die Grenze gebracht werden, das heißt, sie müssten durch das Gebiet, in dem die Bundeswehr „Führungsnation“ ist. Was das bedeuten würde, wird auf dem gut informierten Blog „Soldatenglück“ kommentiert: „Diese Transit-Region muss nun besonders gesichert werden, die Konvoi-Routen und die 75 Kilometer lange Eisenbahn-Verbindung Mazar-i Sharif/Afghanistan – Termez/Usbekistan könnte zum genuinen Angriffs-Ziel der Taliban werden. Die Exit-Protection muss federführend die Bundeswehr übernehmen, und wer den Abzug sichert, muss seine Kampfkraft und Durchhaltefähigkeit lange und teuer beibehalten und geht als letzte Kampftruppe raus.“
Doch auch ohne den Abzug der anderen NATO-Truppen zu bewachen, wird der Abzug der Bundeswehrsoldaten ein, so RP Online, „teures und gefährliches“ Unterfangen werden. Daher fordert unter anderem Elke Hoff, verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, ein eigenes Mandat – mitsamt temporärer Erhöhung der Truppen und rechnet vor: „Wir haben das Beispiel der Niederländer, die 2010 aus Afghanistan abgezogen sind. Die haben für die Rückverlegung von 2.000 Soldaten 600 bis 800 Kräfte gebraucht. Wenn man das hochrechnet auf uns (4800 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan – J. S.) kann man sich vorstellen, was dahintersteckt“. Mit dieser Meinung steht Hoff nicht allein. Auch de Maizière machte entsprechende Andeutungen in einem Interview mit The European vor dem Gipfel in Chicago.
Die NATO zieht also noch lange nicht aus Afghanistan ab. Es steht zu befürchten, dass die Stärke der deutschen ISAF-Truppe sogar noch erhöht werden könnte. Und auch wenn Ende 2014 tatsächlich ein Großteil der NATO-Truppen abgezogen sein wird, bedeutet dies keinesfalls das Ende des Krieges in Afghanistan, denn die afghanischen Sicherheitskräfte werden ihn – bezahlt und angeleitet durch die NATO-Staaten – weiterführen.