von Frank Ufen
„Stille Wasser sind tief.“ Was dieses Sprichwort verkündet, klingt wie eine Offenbarung. Doch was bleibt davon übrig, wenn man es und eine ganze Reihe anderer Spruchweisheiten mit den neuesten Erkenntnissen der Natur- und Sozialwissenschaften konfrontiert? Um das zu klären, hat der Wissenschaftsjournalist Walter Schmidt intensiv recherchiert. Dabei ist eine Menge herausgekommen.
Offensichtlich verkündet das Sprichwort, wenn man es wortwörtlich versteht, physikalisch Unsinniges. Denn spiegelglatte Seen können sowohl tief als auch flach sein, und Wasser, die still sind oder still erscheinen, müssen nicht besonders gefährlich sein. Häufig ist der auf dem offenen Meer durch Wind oder auch Erdstöße ausgelöste Wellengang ziemlich gering, während an der Küste die Brandung tobt. Denn dort, wo das Wasser erheblich tiefer ist als in Küstennähe, kann sich die Energie der Wellen auf ein gigantisches Wasservolumen verteilen. Doch man kann dieses Sprichwort auch ganz anders verstehen. Es kommt immer wieder vor, dass es Sexualstraftätern über einen langen Zeitraum gelingt, den Anschein zu erwecken, harmlos, bieder und umgänglich zu sein. Wenn sie schließlich als Vergewaltiger, Kinderschänder oder Serienmörder entlarvt werden, verstehen diejenigen, die sie mehr oder weniger gut kennen, die Welt nicht selten nicht mehr und erklären, den Täter völlig falsch eingeschätzt zu haben. Für diese verstörende Diskrepanz zwischen Wesen und Erscheinung bei Sexualstraftätern gibt es eine einleuchtende Erklärung: Da sie immer wieder von tabuisierten Vorstellungen und Phantasien heimgesucht werden und da sie oft das Gefühl haben, man könnte ihnen ansehen, was in ihrem Kopf vor sich geht, achten sie peinlich genau darauf, nichts zu tun, wodurch sie auffallen könnten.
„Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter.“ In diesem Sprichwort entdeckt Schmidt einen beträchtlichen Wahrheitsgehalt. Der menschliche Körper ist nämlich ununterbrochen den Angriffen unzähliger Mikroorganismen, Pilzsporen und Viren ausgesetzt. Deswegen muss das Immunsystem rund um die Uhr auf Hochtouren laufen und ungeheure Mengen von Antikörpern produzieren, von denen jeder auf den jeweiligen Angreifer zugeschnitten ist. Das funktioniert allerdings nur, wenn das Immunsystem sich ständig mit der ganzen Vielfalt dessen auseinandersetzt, was ihm gefährlich werden könnte, und wenn es sich genau merkt, welche Feinde es in der Vergangenheit mit welchen Mitteln bekämpft hat. Doch wenn der Körper es schafft, einen Erreger abzuwehren, ist er gegen ihn für längere Zeit oder für immer gefeit.
Hingegen ist der Spruch „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ bloß abstrus. Schmidt vermutet, dass man es hier mit einer Pseudoweisheit zu tun hat, die direkt auf Karl May zurückgeht. Der Nutzen von Sprichwörtern für die Alltagspraxis ist ziemlich gering – zumal es zu fast jedem Sprichwort ein weiteres gibt, das das genaue Gegenteil dessen behauptet, was das andere postuliert. Umso größer ist der Nutzen dieses Buchs. Walter Schmidts Analysen eröffnen einen neuen Zugang zur Welt der Sprichwörter.
Walter Schmidt: Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2012, 240 S., 8,99 Euro
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