von Edgar Benkwitz
Die kürzlich erschienene Liste der einhundert „einflussreichsten Persönlichkeiten 2012“ des Time Magazine enthält neben Namen wie Obama, Merkel, Lagard auch die von zwei indischen Frauen. Beide sind in Indien auf sehr unterschiedliche Weise bekannt. Anjali Gopalan widmet sich seit über 20 Jahren hingebungsvoll HIV- und Aidskranken. Sie trug deren Schicksale in die Öffentlichkeit und trat gegen die Tabuisierung dieses Themas auf. Die Politikerin Mamata Banerjee hingegen hält das Land auf andere Art in Spannung. Vor einem Jahr gewann sie im Bundesstaat Westbengalen mit seinen 91 Millionen Einwohnern die Landtagswahlen und verdrängte die seit 34 Jahren dort regierende, aber längst zu einer vergreisten Legende gewordene Kommunistische Partei Indiens (Marxist).
Mamata, 57 Jahre, von allen „Didi“ – die große Schwester – genannt, entstammt der Kongresspartei, gründete aber vor 15 Jahren ihre eigene Partei, den „Trinamool Congress“. Diese ist auch mit 19 Abgeordneten im indischen Unterhaus vertreten und beteiligt sich als eine der einflussreichsten Regionalparteien an der Regierungskoalition in Neu Delhi. Neben anderen kleinen Parteien wird sie von der Kongresspartei umworben, da diese bei der letzten Unterhauswahl mit 206 von 543 Sitzen die absolute Mehrheit verfehlte.
Die Ministerpräsidentin von Westbengalen, Mamata Banerjee, lenkt immer wieder durch spektakuläre Aktionen die Aufmerksamkeit des Landes auf sich. So will sie das Ansehen der abgewählten Kommunisten in Westbengalen weiter schwächen. So soll die Farbe rot aus dem Stadtbild Kalkotas(Kalkutta) verschwinden – stattdessen wird alles mit Blau, der Farbe der Trinamoolpartei, gestrichen; deren Mitglieder wurden aufgerufen, nicht mit Kommunisten oder deren Verwandten die Ehe einzugehen, ja nicht einmal mit ihnen zu sprechen; in Geschichts- und Lehrbüchern sollen die Namen Marx und Engels getilgt werden.
Im toleranten Indien treffen solche Aktionen auf Spott und bissige Kommentare. Mit Sorge werden hingegen die aggressive Medienschelte von Mamata Banerjee und ihr Überreagieren auf kritische Bemerkungen betrachtet. Der Beiname „Didi“ wurde schon mal in „Didigiri“ abgewandelt – eine neue Wortschöpfung, die für extreme Intoleranz steht.
Eine überzogene Profilierung ist auch in Banerjees politischer Arbeit in Neu Delhi zu spüren. So erschien sie nicht zum jährlichen Treffen der indischen Chefminister, da sie mit der Tagesordnung nicht einverstanden war. Sie forderte auch erfolgreich den Rücktritt des ihrer Partei angehörenden Eisenbahnministers in der Zentralregierung, da er angeblich ohne ihre Kenntnis geringfügige Fahrpreiserhöhungen ankündigte. Weiterhin wurde ein grundlegender Vertrag mit dem Nachbarstaat Bangladesh über die gemeinsame Wasserversorgung blockiert.
Beobachter fragen sich, ob der vorjährige überwältigende Wahlsieg in Kalkota oder das „Zünglein an der Waage“-Spielen in Neu Delhi Banerjee in den Kopf gestiegen sind.
Allerdings sind derartige Machtspielereien im föderalen Indien keine Ausnahme. Indien ist politisch stark zergliedert. Die Hälfte der 28 Bundesstaaten wird von Nichtkongressregierungen geführt, im Zentralparlament sind 40 Parteien vertreten. Die mit Abstand stärkste Partei, der Indische Nationalkongress (Kongresspartei) ist auf Unterstützung durch Regionalparteien angewiesen. Nach Ansicht von Politologen sind die Zeiten der Alleinherrschaft einer Partei in Indien für immer vorbei. Somit gehören Absprachen und Zugeständnisse an politische Kräfte aus den Unionsstaaten zum politischen Tagesgeschäft.
Da nimmt es nicht wunder, dass für das nächste politische Großereignis, der Wahl eines neuen Präsidenten im Juli, schon jetzt fleißig sondiert wird. Ähnlich wie in Deutschland wird der Präsident von einem Gremium, das sich aus den Mitgliedern von Unter- und Oberhaus sowie der Parlamente der Bundesstaaten zusammensetzt, gewählt. Das sind fast 5.000 Abgeordnete. Eifersüchtig wachen die verschiedenen Religionen, Kasten, Ethnien sowie Regionen darüber, dass möglichst einer ihrer Vertreter das hohe Amt bekleidet. Mit Erfolg, denn unter den bisherigen 12 indischen Präsidenten befanden sich auch ein Kastenloser und drei Muslime.
Für eine regierende Partei ist es wichtig, dass ihr Kandidat Präsident wird. Obwohl überwiegend mit repräsentativen Funktionen betraut, ist er nominell auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Vor allem aber verfügt er über das Instrument der „president’s rule“, der Präsidentenherrschaft, womit er auf Anraten der Zentralregierung in das Geschehen der Bundesstaaten eingreifen kann. Ist ein Bundesstaat „unregierbar“ geworden, kann der Präsident die Regierung absetzen. Der betreffende Bundesstaat wird dann bis zu Neu-Wahlen vom Gouverneur, den es in jedem Staat gibt, regiert. Dieses politische Instrument ist letztendlich eine zusätzliche Klammer für den Zusammenhalt des Landes mit seinen divergierenden Kräften.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen hat die Kongresspartei verschiedene Namen ins Spiel gebracht. Emissäre von Kongresspräsidentin Sonja Gandhi führen in den Landeshauptstädten Gespräche und loten die Chancen für einen möglichen Kandidaten aus. Gute Aussichten hätten der jetzige Vizepräsident, ein Muslim, der die Unterstützung der vier linken Parteien Indiens erhalten würde, aber auch die Präsidentin des Unterhauses. Mit Sam Pitroda könnte aber auch ein bekannter Physiker, der als Vater der indischen Telekommunikations- und Computerrevolution gilt und zudem einer rückständigen Kaste angehört, in den Präsidentenpalast einziehen. Die rechte Opposition hält sich bis jetzt bedeckt, nennt keine Namen. Die hinduchauvinistische Volkspartei (BJP) erklärte nur, dass sie keinen Vorschlag der Kongresspartei unterstützen werde; sie will mit Regionalparteien nach einem geeigneten Gegenkandidaten suchen.
Beobachter haben ermittelt, dass die Kongresspartei 27 Prozent der Wahlmänner stellt, mit ihren Verbündeten 40 Prozent. Die BJP kommt hingegen auf 24 Prozent. Damit spielen die Landesparlamente eine entscheidende Rolle. Darauf gründen sich auch Spekulationen, die von der Möglichkeit einer „großen Koalition“ von Regionalparteien und Anti-Kongresskräften sprechen, Politiker wie Mamata Banerjee inklusive.
Solche Überlegungen ignorieren jedoch das tatsächliche Kräfteverhältnis, denn nicht zuletzt die Regionalparteien sind an stabilen Verhältnissen im Zentrum interessiert. Das weiß auch Mamata Banerjee, die mit der Zentralregierung im Gespräch steht, um ein Moratorium für ihren hoch verschuldeten Bundesstaat zu erreichen. Und sollte doch einer der kleineren Verbündeten zu einer Anti-Kongress-Konstellation wechseln, so kann davon ausgegangen werden, dass Parteien aus anderen Bundesstaaten bereit sind, in die Lücke zu springen. Die Mutter aller indischen Parteien, wie die Kongresspartei zuweilen genannt wird, ist erfahren genug, um im Vorfeld Gefahren auszuräumen. Als Regierungspartei stehen ihr Machtmittel sowie finanzielle und ökonomische Hebel zur Verfügung, um regionale Kräfte zu binden. Das hat zumindest in der Vergangenheit geklappt und gehört, wie bereits gesagt, zum politischen Tagesgeschäft in Indien.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Kasten, Kongresspartei, Sonja Gandhi