15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Die Unkenntnis ist immer größer

von Martin Walser*

Vergessensleistungen sind verlangt zur Fortsetzung des Lebens.

Ich muß ehrlich sagen, der Gebrauch, den die Gebildeten von ihrer Bildung machen, ist oft vernichtend.

Verkündigung. Tritt heute auf als Theorie. Der Auftritt im Namen von etwas, das mehr ist als man selbst. Sich aufplustern mit etwas, das mehr ist als man selbst. Wettbewerb im Sichaufplustern. Wenn schon Größe, dann im Kleinsein.

Der Intellektuelle, besonders der vom Staat gehaltene, macht fast keine Erfahrungen mehr. Deshalb muß er religiös, das heißt welterlösend tendieren.

Mehr Erfahrungen, als auf einen Standpunkt gehen, macht man schnell.

Jesus hätte keinen Glauben verlangen dürfen, dann wäre er der Jesus. Der er sein wollte.

Schuldfähigkeit ist die höchste Fähigkeit, zu der ein Mensch sich entwickeln kann.

Solange man Zeitungen liest, ist einem nicht zu helfen.

Nichts, was mir wichtig ist, ist links oder rechts.

Sittenwächter leben vom Reklamebordell.

Macht ist immer Macht über andere. Trotzdem gibt es Leute, die Macht haben wollen.

Ich gebe nicht auf. Das wundert mich.

Die Unkenntnis ist immer größer als die Kenntnis.

In mir gibt es keine Einigung. Sobald in mir eine Meinung auf sich aufmerksam macht, leuchtet in mir das Gegenteil auf. Es ist Notwehr.

Die Gewißheitstonart ist die verlogenste. Wer sucht, der findet. Klopfet an, so wird euch aufgetan.

* – Entnommen aus: Meßmers Reisen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005, 191 Seiten, 7,50 Euro.