15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Am Pfaffenteich und an der Neiße

von F.-B. Habel

„Die Kalina ist eine ganz besondere Beere, dunkler als die Heidelbeere, und sie ist ganz anders als Holunder“, bemerkte Wladimir Kaminer, der das Filmkunstfest Schwerin eröffnete, bei dem „Roter Holunder“ als Wassili Schukschins Meisterwerk aus dem Jahre 1974 die Länderreihe Russland eröffnete. In den DDR-Kinos hütete man sich vor falscher Übersetzung und ließ den Film unter dem Originaltitel „Kalina Krasnaja“ laufen.
In Schwerin, wo der Wettbewerb seit 1991 dem „kleinen“ deutschsprachigen Film gewidmet ist, gab es zahlreiche Nebenreihen, die einen Blick in die Vergangenheit gestatteten – beispielsweise die Hommage an Otto Sander, bei der auch seine einzige Filmregiearbeit „Gedächtnis“ über seinen großen Kollegen Curt Bois gezeigt wurde. Für die Reihe „gedreht in M-V“ war mit „Souper um Mitternacht“ ein 90 Jahre alter Stummfilm ausgegraben worden, der aus der Schweriner Obotritfilmfabrik stammte. Doch auch aktuelle Filme liefen in dieser Reihe.
Den Wettbewerb eröffnete Ralf Hüttners Road-Movie „Ausgerechnet Sibirien“, der jetzt auch in den Kinos angelaufen ist. Joachim Król ist als Logistikdirektor eines deutschen Modeversandhauses ein guter Fünfziger und mit seinem Leben nicht ganz zufrieden. Da verliebt er sich auf einer Dienstreise in Sibirien ausgerechnet in eine singende Schamanentochter. Król lässt seinen bewährten Dackelcharme spielen, wie es Heinz Rühmann auch nicht besser konnte. Das Ganze ist sympathisch erzählt, bleibt aber seicht. Eine Spannung zwischen den Darstellern stellt sich kaum her.
Anders ist das in „Die Vermissten“, dem Abschlussfilm von Jan Speckenbach an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er erzählt eindringlich die Odyssee eines Vaters, gespielt von André M. Hennicke, der seine verschwundene Tochter in einer absurden Welt sucht, in der Kinder sich von ihren Eltern lossagen. Der Regisseur schafft eine Metapher für die Verunsicherungen, die unsere Zivilisation durch Kontaktverluste schafft.
Eine diffizile schauspielerische Leistung bot auch Devid Striesow an der Seite der begabten Luisa Sappelt in „Transpapa“. Unspektakulär und psychologisch feinfühlig wird die Geschichte einer Fünfzehnjährigen erzählt, deren Vater sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht. Dabei gibt der Identitätswechsel nur den Anlass, über Fragen des Zusammenlebens zu reflektieren. In Schwerin erhielt dieser Film zwei Preise.
„Transpapa“ lief parallel auch im Wettbewerb eines weiteren Festivals. Während das Filmkunstfest Schwerin am Pfaffenteich mit einem beachtlichen Budget von der Filmland M-V gGmbH professionell organisiert wird, betreiben Lausitzer Filmenthusiasten das Neiße Filmfestival ehrenamtlich, aber ebenfalls mit viel Engagement (und Selbstausbeutung). Sie haben Gleichgesinnte im Dreiländereck gefunden, mit denen sie von Großhennersdorf aus das Festival mit Spielstätten in Deutschland, Polen und Tschechien organisieren. Entsprechend kommen die Wettbewerbsfilme auch aus diesen drei Ländern. Obwohl die Preisgelder gering sind, wurde doch ein Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmwettbewerb ausgerichtet. Auch an der Neiße gab es eine Retrospektive, die hier der Avantgarde-Regisseurin und Kamerafrau Elfie Mikesch gewidmet war.
Mehrere der deutschen Beiträge des Dokumentarfilmkontests waren schon von anderen Festivals bekannt, darunter Philip Scheffners „Revision“ über den „versehentlichen“ Totschlag an zwei Roma in Mecklenburg 1992, „Die Frau des Fotografen“ von Philip Widman und Karsten Krause über die biederen Versuche eines bundesdeutschen Kleinbürgerehepaares, die moralischen Grenzen der 50er Jahre zu überwinden sowie Ringo Röseners und Markus Steins Porträt von Schwulen in der DDR, „Unter Männern“. Der letztere Streifen hatte auch schon in Schwerin ein interessiertes Publikum gefunden.
Der Film des polnisch-deutschen Regisseurs Andrzej Klamt „Die geteilte Klasse“ über Schicksale deutschstämmiger Polen-Aussiedler, die in den siebziger Jahren in die Bundesrepublik kamen, hätte brisant werden können, blieb jedoch an der Oberfläche. Es gab keine überraschenden Aussagen. Die einen hatten gute, die anderen schlechte Erfahrungen, und worin die Diskriminierungen bestanden, denen die Schüler wegen ihrer deutschen Abstammung in Polen ausgesetzt waren, wurde nicht erfragt. Trotzdem erhielt der Film den Spezialpreis des Festivals.
Erfreulich war, dass offenbar ein Comeback der wunderbaren Monika Lennartz festgestellt werden kann. Seit DEFA-Zeiten hatte sie nur noch selten vor der Kamera gestanden und spielte nun in dem Kurzfilm „Mädchenabend“, der in Schwerin lief, und in dem Spielfilm „Crashkurs“ von Annika Wangard im Neiße-Wettbewerb Hauptrollen. Aktive Alte erobern die Leinwände mit Witz und Charme!
Hingegen enttäuschte den Kritiker ein Film mit zwei Helden, die kurz vor der Pubertät standen. Der junge tschechische Regisseur Olmo Omerzu erhíelt für „A Night Too Young“ den Hauptpreis der Spielfilm-Jury. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, die mit Drogen und Sexualität konfrontiert werden, war eigentlich ein Mittelmetrage-Film, und die slawische Schwermut kippte in Langeweile um.
Viele dieser Filme sind mit einem geringen Budget entstanden, was man ihnen leider auch ansieht. Dabei wird von den Filmemachern viel Phantasie und oft auch Leidenschaft in die Filme gesteckt. Das galt nicht zuletzt für den Kurzfilmwettbewerb, gespeist zu einem großen Teil von Filmschulen, weshalb die Beiträge oft eine Viertelstunde und länger dauerten. Professorennamen wie die von Günter Reisch oder Doris Dörrie konnte man da im Abspann lesen. Doch auch frei produzierte Filme waren zu sehen, etwa Sascha Quades im Rahmen eines Wettbewerbs innerhalb von wenigen Stunden entstandener Film „Meyer“ über das Verhältnis eines dementen Vaters zu seinem Sohn.
Der Film „Auf dem Speicher“ ist unter besonderen Bedingungen in Großhennersdorf entstanden. Arbeitslose, die mit Film bisher nur als Konsumenten zu tun hatten, haben einen liebevoll ausgestatteten Trickfilm gedreht, weil die Arbeitsagentur dieses Projekt gefördert hat. Regie: Kollektiv des Projekts Dorfkino.
Der Besuch in den Spielstätten, unter anderem in Zittau, Görlitz/Zgorcelec, Bogatynia, Hradek und Varnsdorf war unterschiedlich. Es gibt noch Potential, und wenn das Neiße Filmfestival am nächsten 1. Mai zum zehnten Mal eröffnet wird, so ist zu hoffen, dass sich viele Leute Zeit nehmen, um für eine knappe Woche das abwechslungsreiche Programm zu besichtigen.