15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Querbeet (VIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei Stücke-Eindampfmaschinen, zwei Endspiel-Filme, zweimal Gier-Gesellschaftstheater und ein Buch über das unheimliche Unwesen von Scharia-Richtern hierzulande.

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„Lass ihn uns kalt machen.“ Ein derart schlagend kurzer Satz wäre Thomas Mann, dem Weltmeister im Langsatzbauen, nie, nie, nie über die Lippen gekommen. Geschweige denn aufs Papier. Ein solch kraftmeierisch knapper Satz ist Sache von John von Düffel, dem Weltmeister im Eindampfen dicker Wälzer. Ob bloß 500 Seiten oder mehr als 1000, ob „Der Turm“ oder „Buddenbrooks“: Kein Problem! Düffels geniale Streich- und Presswerkstatt verschlankt alles literarisch Dicke – aber eben auch Fette, Große zum flachen Format für hintere Jeanstaschen. Das begeistert pfiffige Theaterdirektoren. Die wollen sich, als gäbe es nicht genug erregende Dramen, an die kecke Mode hängen, mit Kurzfassungen diverser Erfolgs-Romane (oder -Filme) zu reussieren. Klappt sogar; meistens. Das Publikum denkt: Super, kriegt man den Wälzer in drei Stunden mundgerecht. Wie jetzt Thomas Manns Gottsucher-Geschichte „Joseph und seine Brüder“ am Deutschen Theater Berlin. Stimmt, der minimierte alttestamentarische Plot wird korrekt abgespult. Doch um was es alles geht, das bleibt weiterhin verpackt zwischen den 1829 Druckseiten (Aufbau Verlag 1974). Der große Zauberer als Schreiberling eines Lexikon-Theaters, das an der Rampe flott Stichworte ablässt („Lass ihn uns kalt machen“ – die Gebrüder über ihren Bruder Joseph). Ums Honorar zu rechtfertigen, legt die holländische Gastregisseurin Alize Zandwijk noch ein paar bunte Bühneneffekte drauf. Das Deutsche Theater ganz im Sinn seines neuen Logos: Ein erbsengroßer Klecks, darin – in Kleinbuchstaben! das Kürzel dt als Monogramm.

Aber es kann auch klappen mit Rotstift und Schere. Am Hamburger Thalia haben Feridun Zaimogli und Günter Senkel „Hamlet“ auf 90 Minuten eingestrichen. Und: verdichtet; auch durch ihre neue Nachdichtung. Übrig geblieben ist nun nicht alles, aber allerhand von Shakespeare (wer kann schon den ganzen). Allein die Konzentration auf die menschheitliche Grundfrage „Sein oder nicht Sein?“ sowie aufs Irrewerden an ihr seit Ewigkeiten und wohl auch in Zukunft sind abendfüllend. Da mag man Lovestory, Generationenkonflikt oder politisches Intrigenstadel getrost beiseitelassen. Erst recht, wenn ein Regisseur wie Luk Perceval mit starken Spielern seine philosophische Tun-oder-Lassen-Performance in faszinierende Bilder packt. Ein so radikaler wie tiefsinniger, düster melancholischer und doch erhellend signifikanter Zugriff: Transzendenz, Poesie, Sarkastisches – alles drin, alles ganz im Geist des Autors. Mit soghaftem Klavier-und Gitarre-Soundtrack des Kopfstimme-Artisten Jens Thomas. Und mit einer wuchtigen Metapher als Bühnenbild (von Annette Kurz): An die Rampe hingeschmissen ein toter Hirsch am Würgeseil, das im Himmel hängt. Und am Horizont ein Vorhang aus alten Kleidungsstücken. Die Stoff gewordene Totenklage aus dem Menschheits-Massengrab als Hintergrund für den elenden Pessimismus aller gegenwärtigen wie künftigen Hamlets – ob sie nun was tun oder ob sie es lassen.

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Ein feiner Herr im feinen Schlosshotel bestellt sich Schampus und ein Callgirl; kippt ein Pulver ins Glas und beim Höhepunkt – schläft er ein; für immer. Aha, kein Luxuspuff, sondern ein Edelhospiz für stilvoll selbstbestimmtes Sterben. Unheilbar Kranke oder vornehm Depressive mieten sich ein, und was sich in Olias Barcos Film „Kill me, please“ anlässt wie eine so spektakuläre wie insgeheim fragwürdige französische Dokumentation über den hygienisch perfekten Suizid auf Rezept, das gerät in 95 Minuten zum grotesk verwirrenden Killer-Thriller. Zum aberwitzigen Horror-Trip, der auf extrem unheimliche, auf extrem komische Art letzte Fragen aufwirft (hinsichtlich Philosophie, Politik, Medizin, Moral). Und der obendrein aufs ungemütlichste man wagt es nicht zu sagen amüsiert. Eine tollkühne cineastische Merkwürdigkeit, gnädigerweise in schwarz-weiß.

Ein mathematisch hochbegabter Mann fällt sozial, zerfällt seelisch, büxt aus, findet wie Robinson im Dickicht märkischer Waldeinsamkeit seinen Freitag und landet nach langwieriger Polizeihatz ordnungsgemäß in der Klapsmühle. Ordnungsgemäß? Das ist die große Frage in Hans Weingartners Psychodrama „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Der Film erzählt jenseits aller Gefühlsduselei von jener irrationalen Summe, die sich eben nicht aus den rational addierbaren Teilchen eines Menschen ergibt. Was wir als „verrückt“ in die seelentöterische Therapie schicken, ist im gegebenen Fall nichts als ein menschlicher, niemandem schadender Versuch zur Selbstfindung und -heilung – nur jenseits unserer Normen. Der darf nicht sein, weil nicht ins Üblichkeitsraster passend. Ein in seiner Not individualistischer Widerständler, tragisch endend im geschlossen klinischen Korrektursystem aus Tabletten, Spritzen, Gesprächen, das diesen Mann (großartig: Peter Schneider) nicht „normal“ machen, sondern vollends zerstören wird. — Zwei gegensätzliche Filme: Beide packend, beide im Gedächtnis kleben bleibend, beide versteckt in Studiokinos.

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Ben Jonsons „Volpone“ ist eine brutale Gangsterkomödie des Shakespeare-Zeitgenossen; unappetitlich eklig, aber mit immergrünem Thema: Die Gier-Gesellschaft. In Potsdam liefert Regisseur Tobias Wellemeyer die Hardcore-Säuisch-Variante vom reichen Mann, der auf todkrank macht, allen sein Erbe verspricht, auf dass die sich alle beim Tanz ums goldene Kalb in jeder Hinsicht ruinieren. Und der getürkt Marode am Ende noch viel reicher dasteht. — In Bochum aber, dort geht Regisseur Sebastian Nübling mit der Jonson-Farce zwar auch nicht aseptisch um, aber wesentlich raffinierter: Er gibt eine groteske Breitwandshow auf riesiger Revuetreppe. Was in Potsdam bloß banal zotig mit Dreck schmeißt, ist in Bochum furioses Gesellschaftsspiel, so befremdlich wie bürgernah. Gerade dies Zwittrige rüttelt uns besonders: Komisch grausige Gier-Gesellschaft!

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Wenn‘s mal wieder knallt, kracht und blutet in den migrationshintergründigen Hochburgen unserer Großstädte, sind sie prompt zur Stelle: Die vor Grundgesetz und Rechtsstaatlichkeit sich gut versteckenden „Friedensrichter“. Sie sind perfekt vernetzt in den unaufgeklärten, integrationsfern islamischen Milieus, fühlen sich allmächtig aufgrund von Reichtum oder Größe des Clans, dem sie angehören, sie verabscheuen unsere Justiz und betrachten sich zuständig fürs “Schlichten” diverser Konflikte, indem sie sich auf Allah und Scharia berufen. Motto: „Geht nicht zur Polizei. Wir lösen das unter uns!“

Was für den Moment vernünftig nach Vermittlung von Einvernehmlichkeit der Kontrahenten klingt, ist in der geheimen Praxis meist die terroristische Einschüchterung der Opfer. In diesen Hinterzimmer-Gerichten geht es nämlich nicht um Täter-Ermittlung, nicht um Schuld, Sühne, Gerechtigkeit, sondern um mafios interessengesteuerte Macht-„Justiz“ jenseits vom Rechtsstaat, den diese wuchernde Paralleljustiz schleichend bedroht. Darüber hat der Ex-ARD-Journalist Joachim Wagner ein so bestürzendes wie aufklärerisches Buch geschrieben: „Richter ohne Gesetz“ (Econ Verlag). „Die wachsende Ohnmacht unserer Strafjustiz gegenüber ihrem muslimischen Widerpart ist zum Teil selbst verschuldet, weil der nicht erkannt oder nicht ernst genommen wurde.“ Sagt der Autor, den eine lebensferne politische Korrektheit hoffentlich nicht blindlings in die böse Ecke entsorgt. Teile unserer politischen Klasse sieht durchaus Handlungsbedarf, den Wagner endlich forcieren will mit der Dokumentation entsetzlicher Fall-Beispiele aus Essen, Bremen, Berlin. Vor allem aber will er die Diskussion in nunmehr breiter Öffentlichkeit. Und das nicht bloß bis zum nächsten Querbeet.